EINE IDEALE LOLA BLAU
„Heute Abend: Lola Blau“ von Georg Kreisler in der Kleinen Bühne (Grabbe Haus) des Landestheaters Detmold, 23.9.2005
Keine Frau wagt sich an diese Rolle der österreichischen und jüdischen Schauspielerin und Sängerin, die im Zuge einer Vorstellung vom noch etwas unbeholfenen politisch naiven Talent in Österreich und Basel über den in Alkoholismus mündenden Showstar in Amerika zur resignierenden Chansonsängerin im Wiener „Café Kaiserschmarrn“ altert, keine Frau, die sich nicht die meisten Kreisler-Chansons in ihrem Facettenreichtum gleichzeitig souverän (wie man in einem Quasi-Einpersonenstück eben sein muss) und doch brüchig (wie diese Lola Blau eben ist) selbst zutraut – eine Gratwanderung, die jede „Lola Blau“ wie auch das Publikum voll fordert. Sie muss die Kraft und das Durchhaltevermögen haben, die anspruchsvollen Liedtexte in allen Nuancen, in aller tiefenpsychologischer Wirkung zu entfalten. Sie muss die Balance halten können, einer reinen Virtuosennummer der Vielseitigkeit auszuweichen, also Schauspielerin zu bleiben, mit der man sich identifizieren kann. Den Weg der Bühnenfigur sollte der Theaterbesucher im Idealfall mit genauso differenzierter Anteilnahme mitgehen können: Das Beobachten der Leistung dieser einen Person möge zum Hinterfragen der eigenen Position zum Zeitraum nach 1938 führen. Der Schreiber dieser Zeilen hat im Lauf eines Jahres Vorstellungen in völlig verschiedenen Inszenierungen in Wuppertal, Augsburg, Wien, Münster, Linz, Stuttgart und jetzt in Detmold besucht. Egal welche Regieideen für „Abwechslung“ sorgen: Das Stück steht und fällt mit der „Lola Blau“. Keine Frau geht mit so einer Rolle auf die Bühne, die nicht all diese kleinen Nuancen, die in jeder Textzeile stecken, bis ins winzigste Detail erarbeitet und „intus“ hat. Einige trauen sich das Lied „Ich hab a Mädele“ (wohl wegen des jüdischen Idioms) nicht zu, andere sparen aus dramaturgischen Gründen (Angst vor Langatmigkeit) die eine oder andere Nummer aus – aber in allen sieben Vorstellungen sieht und hört man ganz großartige, individuelle „Lolas“. Hat man einen innerlich aufwühlenden, sehr bewegenden Theaterabend hinter sich (und das Wunder des Theaters wie auch des Musiktheaters oder eines Konzerts, natürlich auch des Betrachtens von jeder anderen Kunst oder des Buchlesens) besteht ja darin, für die Zeit der Hinwendung genau ein Teil jener Welt zu sein, die „geboten“ wird), ist man geneigt, die eben besuchte Vorstellung als die beste von allen zu bewerten. Die Vielfalt der Gestaltungskraft und die Substanz des Stückes an sich machen es dem für dieses Genre offenen Besucher leicht, „mitfühlend“ dabei zu sein. Ulrike Wahren in Detmold gelingt es wie nur ganz wenigen, nicht nur die Lola Blau in allen Facetten zu spielen, sie IST Lola Blau. Und es wird NICHTS weggelassen, keine einzige Musiknummer. Trotzdem kommt keine Sekunde Langeweile auf. Die Inszenierung von Juliane Wulfgramm verzichtet (wie so oft) auf ein Bühnenbild, notwendige Requisiten wie Tisch und Stuhl, Koffer mit Inhalt oder Kleiderständer reichen aus, die Schauplätze zu imaginieren. Es gibt hier auch keine Bild- oder Filmprojektionen. Das akustische Material wird von der Originaleinspielung mit Topsy Küppers (erschienen bei Preiser) übernommen: die alten Schlager, die zeitgeschichtlichen Dokumente, sogar die Monologe der Männer-Nebenrolle(n) und Georg Kreislers Liedausschnitte. Diese Theaterarbeit ist total auf Ulrike Wahren zugeschnitten. Sie singt und spricht ohne Verstärkung, nur manchmal eine Spur zu leise. Ihre Sprechstimme ist heller als andere Lolas, die unterschiedlichen Gesangs-Farben bewältigt sie mit phänomenaler Vielfalt an Technik und Engagement. Sie lässt wie schon erwähnt keine einzige Musiknummer aus und gibt sich jeder absolut glaubwürdig hin. Natürlich ist Ulrich Zippelius am schwarzen Pianino im rechten Bühnenbereich genauestens abgestimmt mit ihr, und trotzdem ist die Abstimmung zwischen Künstlerin und Pianist das einzige wirkliche Manko der Aufführung. Denn diese Abstimmung verläuft nach dem Motto: Da kann nichts passieren (hier genauso positiv wie negativ gemeint). Zippelius verbreitet vom Klavier aus genau die souveräne, beiläufige Routine bis zum nebensächlichen geschwinden, auch lautstarken Umblättern der Notenkopien, der Ulrike Wahren in ihrer grandiosen Authentizität der Rollengestaltung in jeder Minute dieses Abends niemals zu erliegen droht. Zippelius bleibt streng am Original-Klavierauszug (was ja nicht so übel ist), als Schiffspianist kann er etwas „über den Tellerrand“ präludieren, das dient auch zur Überbrückung der Umkleidepausen. Bei den Kostümen hat man nicht gespart, Ulrike Wahren bietet neben allem anderen auch eine opulente Kostümshow, in der es ihr umso leichter fällt, sofort die Lola in der Lebensphase zu sein, die gerade ansteht. „Die Wahrheit vertragen sie nicht“ gibt sie als Putzmädel, dazu holt sie einen älteren Herrn aus dem Publikum auf die Bühne. Das kommt an, da wacht das Publikum auf. So großartig wie sonst keine andere lebt sich Ulrike Wahren als Dame in den „zweitältesten Frauenberuf der Welt“ ein. Und nuanciert trifft sie den jüdischen Tonfall beim „Mädele“ und beim „herrlichen Weib“ (auf einem Tisch im Publikum agierend, wieder mit Leuten kokettierend) auf der Schiffsreise in die USA. Damit räumt sie vor der Pause ab. Bei „Sex is a wonderful habit“ ist der Pianist ins Geschehen einbezogen. Als Shownummer wählt sie (wie so manche andere) „Making Whoopie“. Das ist einer der absoluten Höhepunkte: Wie Ulrike Wahren zwischen lasziver Erotik in Stimme und Gehabe und fast nicht mehr zu verbergender Alkoholsucht diese Nummer „übersteht“, das ist geniale Bühnenkunst. Diese Frau hat natürlich auch die Kraft, aus „Im Theater ist nichts los“ das Allerbeste rauszuholen. Wie sie sich vor dem imaginären Direktor als improvisierende Schlagersängerin eines eigenen Liedes, als Chansonette, als Wienerin, als Ungarin, als Berlinerin aufführt, das zeigt Lust und Können dieser Rollen gleichermaßen fulminant. Wenn sie sich dann „Zu leise für mich“ resignierend abschminkt, ist das das Finale einer rundum beeindruckenden Leistung. Der Pianist, mit dem nichts passieren kann, zehrt am ehrlich enthusiastischen Applaus mit. Nicht nur „Heute Abend: Lola Blau“ ist eine Reise in die nette nordrhein-westfälische Kleinstadt Detmold wert, aber – solange dieses Stück auf dem Spielplan steht – ein guter Grund für eine solche Reise.