DIE VIELEN DAGMAR ANUTHS
„Brecht – Ein Liederabend“ mit Dagmar Anuth und Bastian Kopp, Theater an der Linde (Strümpfelbach), 11.3.2006
Wer ist Dagmar Anuth? Wer ist diese groß gewachsene, gertenschlanke Frau, die Brecht und Villon rezitiert, die aber vor allem Brecht-Vertonungen und ein bisschen Stankovski und Kreisler singt? Sie erzählt uns wenig von sich, und wenn sie es tut, tut sie es als Schauspielerin, im Kunst-Tonfall der einstudierten Worte. Sie distanziert ihre Person bewusst zur Kunstfigur Dagmar Anuth. In eineinhalb Stunden treten mehr als zwanzig Dagmar Anuths auf: die, die vom angenehmen Leben erzählt, die, die von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens weiß, die, die betont, dass man so liegt, wie man sich bettet, dann das Revuemädchen während des Entkleidungsaktes, die, die den Surabaya-Johnny so kennt wie sonst niemand, die, die alles über die sexuelle Hörigkeit weiß, das Freudenmädchen, die „Judenhure“ Marie Sanders, die Seeräuber-Jenny und einige andere, jede in eigener Gestalt, jede eine eigene Person, vielfach in neuer Kostümierung und völlig eigener Liedsprache. Es tritt aber auch die Rezitatorin Dagmar Anuth auf, die großteils am Lesetisch Francois Villon und Bertolt Brecht liest, und die uns Brechts egozentrische Imagepflege verbal und sein hemmungsloses künstlerisches Benutzen einer Elisabeth Hauptmann wissenschaftlich genau im Programmblatt offen legt. Dagmar Anuth schlüpft in all diese Rollen, und irgendwo dazwischen ist sie sie selbst, vor allem im Einsatz für die Frauen und Entrechteten. Sie ist mit Leib und Seele Schauspielerin und Chansonette, aber man spürt, dass sie es nicht immer ist. Man spürt die Leidenschaft und die immense Freude, sich (die vielen „Sichs“) vor Publikum zu präsentieren, man lebt Dagmar Anuths Identifikation mit den anspruchsvollen Chansons mit, und gleichzeitig beobachtet man, wie sie zumindest am Anfang des in einem Durchgang ohne Pause durchgezogenen Programms stets offenkundig mitdenkt, auch ja jede wohl gemeinsam mit Regisseurin Sandra Kreisler erarbeitete, bis in winzigste Details durchdachte Choreographie des Liedvortrags ganz korrekt wiederzugeben. Diese Konzentration auf das Technische verliert sich nach etwa zwanzig Minuten, die Kunst verselbständigt sich rasch, hebt sich von der als einstudiert erkannten Performance ab, und spätestens die „Judenhure“ mit dem Frauen-Judenstern erzeugt jene magische Beklemmung, die große Kunst auszeichnet. An ihrer Seite das Phänomen Bastian Kopp, das gegenüber dem subtilen dynamischen Potential von Dagmar Anuths Stimme am zu laut eingestellten Yamaha E-Piano (man wünscht sich dieses Programm mit einem akustischen Klavier!) selbstbewusst und selbstverständlich die Grundfarben der Chansons unterlegt. Bastian Kopp spielt alles auswendig, er hat die Lieder nach Gehör erarbeitet und beherrscht sie in seinen eigenen Arrangements in grandioser Weise. Bastian Kopp beim Begleiten zuzusehen ist eine Gratwanderung des Staunens. Er blickt selten auf die Tasten, scheint vielmehr die Sängerin vor sich zu durchdringen, wie ein Panther am Sprung, jede Nuance mitfühlend, die sein „Opfer“ offen legt. Natürlich springt er nicht, er gleitet vielmehr wie ein Chamäleon instinktsicher durch die Klangfarben von Dagmars vielschichtigen Charakteren. Mitunter scheint er gelangweilt zu spielen, die Hände arbeiten von selbst, vielleicht denkt er an gutes Essen oder an den Kontostand, wer weiß, aber nein, schon sieht man ihn wieder mitatmen, mitleben mit der Sängerin. Diese beiläufige Souveränität, diese wie hingeworfen wirkende Selbstverständlichkeit immens einfühlsamer Klavierbegleitung zeichnen Bastian Kopps Leistung aus. Manches hätte vielleicht mehr Probenzeit vertragen, etwa das geniale „Lied eines Freudenmädchens (Nannas Lied)“ von Weill/Brecht, wo die von Weill so herrlich romantisch vorgelegten melancholischen Melodiebögen etwas kalt, wie nebenbei abgehakt werden, aber der Großteil „funktioniert“ im besten Sinn. Das Publikum, darunter der große Ernst Stankovski, für den sich die Künstlerin zum Finale des Programms eine sehr schöne, stilvolle Danksagung für sein Kommen einfallen hat lassen, ist hörbar positiv überrascht, reagiert auf subtile Bonmots genauso wie auf beklemmende Gesellschaftskritik. Die vielen Dagmar Anuths verabschieden sich mit zwei markanten Zugaben: der unausweichlichen „Moritat von Mackie Messer“ – und Georg Kreislers „Zu leise für mich“.