Direkte Demokratie in Deutschland?

Begonnen von Bastian, 27. November 2003, 01:49:15

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Clas

Moin, moin,

und davon abgesehen, könnte ja die Wahlkampfkostenerstattung an die 100%-Periode und die tatsächlichen Stimmen  gebunden werden... Und  je weniger zur Wahl gehen, desto pleiter die Parteien... Es wäre das ein Anreiz, auch ein Anreiz, über Anreize nachzudenken. 

Gruß Clas
"Ach, das Risiko...!" sagte der Bundesbeamte für Risikoabschätzung abschätzig...

Bastian

ZitatDemokratie kostet!

Und nicht nur die Demokratie selbst. Auch politische Fehlentscheidungen kosten unser Geld. Da wäre es nur fair, es dürften auch diejenigen entscheiden, die am Ende die Zeche bezahlen. Mit eigenem Geld geht man eher sparsam um als mit dem Geld anderer.

Es ist ja eine Erfahrung aus regelmäßigen Bürgerentscheiden, dass sie kostensenkend wirken. Wer ein Projekt hat, das er durchsetzen möchte, muss den Bürgern ein Finanzierungsangebot machen, das sie auch annehmen können. Sonst scheitert er mit seinem Plan. Ich bin mir sicher, dass z.B. S21 von Bahn- und Landesseite ganz anders angegangen worden wäre, wenn sie nicht einen de-facto-Blankoscheck in Händen gehalten hätten, sondern jede Kostensteigerung durch den Geldgeber hätten absegnen lassen müssen. (Mit Geldgeber meine ich in diesem Fall den Bund, uns Bahnfahrer und die Baden-Württemberger.)

Ui, fällt mir gerade ein: Burkhard, fährst Du viel mit der Bahn?

Heikos Idee mit der wahlbeteiligungsgekoppelten Legislaturperiodendauer hat was. Das liest sich ja schon fast wie Gesetzesdeutsch, das könnte was werden.

Grüße
Bastian

Heiko

Zitat von: Sandra am 30. September 2005, 22:15:43
Heute habe ich hier in Wien einen Aufkleber der Anarchisten gesehen, auf dem stand: "Wenn Politische Parteien etwas verändern würden, wären sie verboten"

Nach Wikipedia ursprünglich von Emma Goldman: ,,If voting changed anything, they'd make it illegal." Leider ohne konkrete Angabe. Und dann wird auch noch ihr eigentlich bekanntestes Zitat ("If I can't dance, it's not my revolution.") als fälschlich zugeschrieben bestritten.

Werde das mal in der Bibliothek der Schwarzen Katze recherchieren.
"I would prefer not to."

Schwarze Katze

Hallo Heiko, vielen Dank für die Verlinkung.
Komm(t) doch zu unserem Hoffest am Samstag (24.08., ab 14:00). Es gibt auch einen Büchertisch. ;)
http://www.libertaereszentrum.de/index.php/calendar/53/275-Hoffest-der-Schwarzen-Katze

Libertäres Kultur- und Aktionszentrum "Schwarze Katze"
Fettstr. 23
20357 Hamburg

Heiko

Moin Katze,
mal schauen, kann schon gut sein. Habt ihr denn auch unseren Kreisler im Sortiment?  :D

Libertäre Grüße
Heiko


"I would prefer not to."

LiBi

Hallo!
Wir verstehen uns explizit als politische Bibliothek. So könnten wir zum Diskussionsthema "Direkte Demokratie" einige Titel anbieten. Unter Betonung des Fortschritts zur repräsentativen Demokratie werden hier aus anarchistischer Perspektive insbesondere das Problem der mehrheitsdiktatorischen Entscheidungsfindung debattiert.

Romane und Poetik, die wir aufnehmen, müssen "anschlussfähig" sein. Von Georg Kreisler haben wir bisher leider nichts. Welches seiner Bücher sollte denn nicht fehlen dürfen?

Schöne Grüße
LiBi Hamburg

Bastian

Im Tessin ist per Volksabstimmung das öffentliche Tragen der Burka/ die Verschleierung des Gesichts verboten worden.
Wie denkt ihr darüber?

Bastian

OK, das Bundesparlament hat ja noch nicht zugestimmt, also war die Formulierung "ist ... verboten worden" falsch.

Aber: Kann man das Verschleierungsverbot, auch abgesehen von den Motiven der Initiatoren, als Emanzipationshilfe ansehen? So sehr ich mich bemühe, vermag ich das nicht.

Außerdem wundere ich mich. Ich denke, dass die Vorlage genaugenommen gar nicht erst zur Abstimmung hätte freigegeben werden dürfen, da sie ein Menschenrecht antastet.

Heiko

#133
Das ist doch mal ein schönes Beispiel für Mehrheitsdiktatur. Die Mehrheitsgesellschaft fühlt sich durch gesellschaftliche Randerscheinungen gestört, verlangt Anpassung und nutzt dafür rechtlich abgesicherte Wege. Ich muss zwar zugeben, dass ich beim Anblick Burka-Tragender ebenfalls irritiert bin. Doch welche Gefahren bestünden eigentlich? Dass unter der Verhüllung Bomben getragen werden? Dass polizeilich gesuchte Elemente sich auf diese Weise in der Öffentlichkeit bewegen können? Eine drohende Islamisierung kann ich jedenfalls nicht ernst nehmen. Ich möchte zudem den Menschen, die berechtigte Gründe zur Verschleierung hätten, dieses Recht nicht absprechen. Damit sollen vor allem Entstellungen abseits ästhetischer Normen gemeint sein.

Um den Bogen zu schlagen: ich gebe dem anonymen Bibliothekar Recht. Wenn Demokratie auf "die Mehrheit entscheidet" runter gebrochen wird, könnte eine Minderheit theoretisch auch auf demokratischen Weg versklavt werden. Langfristig führt nichts an einem Konsens-Prinzip und der Frage "welche Lösung wird möglichst allen gerecht?" vorbei. Das erfordert zwar langwierige Aushandlungen, sehr wahrscheinlich auch schmerzhafte Lernprozesse und ist mit Sicherheit nicht für eine 80-Millionen-Gemeinschaft umsetzen. Aber Entscheidungen, die betroffene Interessen übergehen, führen zu Unmut, führt zu Radikalisierung, führt zu neuen Problemen.

Ein Ansatz wären problemorientierte Räte, bei denen jeder mit belegter Betroffenheit mit zu berücksichtigen wäre.  Die starren und sturen Grenzen und Gesetze schaffen erst die Ungerechtigkeiten, die aufzuheben sie vorgeben. Beispiel: Vor ein paar Jahren gab es in Hamburg auf bezirklicher Ebene eine Bevölkerungsbefragung (oder so ähnlich) über die Gestaltung eines Geländes auf dem vormals ein McD stand. Dieses Gelände befand sich ziemlich genau am Rande des Bezirks, so dass Menschen, die zehnzwölf Kilometer weit entfernt wohnten mit abstimmen durften, diejenigen Bewohner auf der gegenüberliegenden Straßenseite aber nicht. Was hindert also die weit Entfernten daran dort, hmm was weiß ich, beispielsweise eine Sondermülldeponie errichten zu lassen? Wäre wohl immer noch ne Verbesserung zu vorher, aber nicht wirklich das Interesse der tatsächlich Betroffenen.

[...]
"I would prefer not to."

Bastian

Zitat von: Heiko am 25. September 2013, 23:25:32Das erfordert zwar langwierige Aushandlungen, sehr wahrscheinlich auch schmerzhafte Lernprozesse und ist mit Sicherheit nicht für eine 80-Millionen-Gemeinschaft umsetzen.
DAS wäre ja gar nicht mal der Punkt. Im Tessin leben um die 300.000 Menschen, analog: etwa eine (deutsche) Großstadt. Und weiter als die Grenzen des Tessins reicht die Entscheidung nicht, wenn sie denn abgesegnet wird.

Und das ist auch ein Punkt, an dem ich den generellen Befürchtungen bzgl. Mehrheitsdiktatur recht geben könnte, aber sogleich widersprechen müsste:
Der Effekt einer solchen Abstimmung (würde deren Ergebnis denn angenommen werden) beträfe, auf deutsche Verhältnisse runtergebrochen, z.B.: Köln - Düsseldorf aber nicht. Oder: Bremen - und Hamburg aber nicht... Es wäre nicht Bundesangelegenheit, wenn nicht bundesweit darüber abgestimmt werden würde. In dieser Größenordnung, und NUR in dieser,  könnte die Rechtsordnung in Punkto Gesichtszeigung schwanken.
Und dann ist immer noch die Frage, ob man das politisch als "Pluralismus" wertschätzt, oder ob man das als "nonkonform" abtut.

Für mich beantworte ich diese Perspektivfrage derzeit mit "Was geht Euch die Burka an?! Unangenehm für's Face-to-Face, aber deren Ding, so what?"
Aber Feministinnen und andere BeauftragtInn_%=en  könnten den Vorstoß als Emanzipations-Unterstützung ansehen und dafür trommeln, dass es die Runde machen möge. Im Sinne von: "Arsch huh, Schleier ussenander!"

Was wäre, wenn durch ein solches Votum, z.B. in Köln-Ehrenfeld, eine solche Bewegung entstünde?

Heiko

Ja, ich sehe sie schon vor mir - barbusige Femen verbrennen öffentlich Burkas ...

Die Frage bleibt: Wer sind die Betroffenen? Das wären ja wohl zunächst die Burka-Tragenden selbst. Solange diese die Bekleidung freiwillig tragen, muss es bei aller Befremdlichkeit erlaubt sein. Tun sie dies nicht, hilft vor allem Aufklärung, weniger aber Verbote. Ich gehe davon aus, dass es sich um ideologisch bedingte, freiwillige Unterwerfung unter den Stoff handelt und dass ein zwangsweises Entschleiern eine ungeheure Demütigung für Burkasianer darstellen würde.
Dritte beträfe diese Frage erst, wenn jemand Verhülltes z. B. an der Supermarktkasse oder am Bankschalter säße oder Fahrkarten kontrollieren wollte o. ä. Erst dann würden Dritte zu Zweiten und es entstünde meines Erachtens ein Recht auf freie Gesicht-Sicht.
"I would prefer not to."

Clas

Moin, moin,

man kann natürlich immer befürchten, dass Feministinnen sonderbare Dinge tun werden, und wahrscheinlich besteht diese Befürchtung zu recht... Man braucht ja bloß die Dinge, die sie tun, sonderbar zu finden, und schon stimmt es.

Ansonsten sollte das der Rest der Welt nicht als Entscheidungsfeld betrachten... Eine gute Freundin, die viel und seit Jahrzehnten, mit Flüchtlingen arbeitet und sich bemüht, denen Deutsch beizubringen, erzählte mal von Feministinnen, die Muslimas befreien wollten, zumindest aber ihre Wahrnehmung der eigenen Unterdrückung schärfen... Da ging es nicht um den Schleier, sondern um das Gehen hinter dem Manne. Eine der Muslimas bedachte das Gehörte, schüttelte das Haupt und meinte: "Vorne Ochse. Ich Wagen."

Man sollte das bedenken.

Gruß Clas
"Ach, das Risiko...!" sagte der Bundesbeamte für Risikoabschätzung abschätzig...

Burkhard Ihme

#137
Zitat von: Bastian am 25. September 2013, 22:43:13
Außerdem wundere ich mich. Ich denke, dass die Vorlage genaugenommen gar nicht erst zur Abstimmung hätte freigegeben werden dürfen, da sie ein Menschenrecht antastet.
Genauso wie das Vermummungsverbot und das Nacktshoppingverbot in Innenstädten?



Lustiger Fehler, dient aber nicht der Diskussion


Bastian

Meinst Du das Entmummungsgebot? Bemummungsentbot... ? Gilt das nicht eh nur bei Demonstrationen, also da, wo man doch Gesicht zeigt?
Sonst darf man doch mummen, wenn der Wind pfeift oder der Regen prasselt. Oder an Karneval, der Fasnacht...

Nee, ich meine, und Amnesty International folgt mir da, dass das öffentliche Schleiern durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt und geschützt ist. Persönlichkeitsrechte und Entfaltung. Darum wundere ich mich, dass eine solche, für die Betroffenen doch sehr übergriffige Anordnung überhaupt zur Abstimmung freigegeben worden ist. Es geht ja nicht um repräsentative Stellungen (wie Heiko schrieb), in denen durchaus ein Dresscode Bedingung sein kann. Aber warten wir's ab. Noch hat das Parlament nicht gesprochen, ich bin gespannt.

Oh?! Nacktshopping ist verboten? Warum erfahre das erst jetzt?!

Zitat von: Clas am 26. September 2013, 15:40:57man kann natürlich immer befürchten, dass Feministinnen sonderbare Dinge tun werden, und wahrscheinlich besteht diese Befürchtung zu recht... Man braucht ja bloß die Dinge, die sie tun, sonderbar zu finden, und schon stimmt es.
Das gefällt mir. Darf ich das als Reflexionskrücke in mein Meditationsgedächtnis hochladen?



Gedanken, die man vielleicht besser für sich behielte: Was wäre, wenn nicht Femen, sondern Männer (Masken?) sich zu Entburkaisierungszwecken entblößten? Das gäb wohl ein sehr schräges Bild ab, oder?
Andererseits: Es hätte sowas verdammt Ehrliches...
Muss doch die Frau sich verhüllen, weil der Mann sich selbst und seinen Geschlechtsgenossen misstraut.

Bastian

Überhaupt ist ein Burkaverbot im Tessin so sinnvoll, wie ein Badekappenverbot in der Sahara.

So. Hab ich's mal wieder gesagt.

Bastian

Das ist schon ein starkes Stück: Gauck ist der erste Bundespräsident, der vor den Gefahren der Demokratie warnt.
http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/Gauck-warnt-vor-der-direkten-Demokratie/story/25651167

Clas

Moin Bastian,

so isser halt, der Wunschkandidat von fast allen, den bedenklich zu finden und zum Geschmeusel zu zählen ja schon fast was undeutsches hatte. Gab es da nicht mal so einen Ausspruch von Herrn Trittin? Für den totalen Gauck? Nu haben sie ihn.

Inzwischen zweifle ich, ob die, die ihn wollten, nicht auch in dieser Frage mit ihm eins sind. Dass Demokratie ein Investitionshindernis sein kann, hört man ja auch immer mal, aus dem Wirtschaftsgeflügelhof der Parteien...

Reichspräsidenten, die da Vorbehalte hatten, gab es ja schon früher mal. Vielleicht ist das das unverkrampfte Anknüpfen an diese Linie? Das unverkrampfte Hetzen Richtung Konfrontation jedenfalls passt dahin.

Gruß Clas
"Ach, das Risiko...!" sagte der Bundesbeamte für Risikoabschätzung abschätzig...

Heiko

Toll, und wer warnt vor einer Gefährdung der Demokratie durch Präsidenten?

Aah, Clas macht's!
"I would prefer not to."

Clas

Und? Hört einer drauf? Richtet sein Wahlverhalten danach? Ach! Heiko! Man ruft da in der Wüste!
"Ach, das Risiko...!" sagte der Bundesbeamte für Risikoabschätzung abschätzig...

Heiko

Was? Nicht mal einer?

In der Wüste könnte man Brunnen graben und Oasen kultivieren. Doch was tun gegen die blauwattierte Ferne?
"I would prefer not to."

Clas

Moin Heiko,

Oasen kultivieren, das ist aber nicht weit vom Blumengießen...

Gruß Clas, der jetzt im Garten wühlen geht...
"Ach, das Risiko...!" sagte der Bundesbeamte für Risikoabschätzung abschätzig...

Bastian

Na, was verscharrst Du denn da?
Und wer bringt dir nur das Holz für den Gartenzaun?

Fragen über Fragen. Aber Garten ist schön! Ich wühle derzeit nur auf meinem Server - doch schöner wird er dadurch nicht...

Heiko

Hi Clas,
wünsche viel Freude dabei gehabt zu haben. Wegen mir darf Garten auch gerne etwas wildwüchsig. Wage zudem einen Unterschied zu erkennen, zwischen der parzellierten Bescheuklapptheit des Blumengießers und des Entwüstens von Ödnis als uneingezäunte Einladung.

grüßt Heiko
"I would prefer not to."

Heiko

Murray Bookchin (1921-2006),

Sohn jüdischer Immigranten aus Russland, Mitbegründer des Institute for Social Ecology (Vermont),

exponierter Vertreter radikaler Direktdemokratie und Konzepteur des "Libertären Kommunalismus", einer zivilgesellschaftlichen Selbstverwaltung von unten,

Liberalen zu revolutionär, weil sich grundsätzlich gegen staatliche Hierarchien positionierend - Anarchisten zu reformistisch, weil sich pragmatisch für Beteiligung an Wahlen aussprechend und einfache Mehrheitsentscheidungen bejahend,

durchaus wert, gelesen zu werden, z. B die gute Zusammenfassung von Janet Biehl oder das neue Buch aus dem Unrast-Verlag mit einigen bisher nicht veröffentlichten Aufsätzen.

Auch Öcalan und anhängende kurdische Organisationen wurden für den von ihnen 2005 proklamierten "Demokratischen Konföderalismus" von Bookchin inspiriert.
"I would prefer not to."