Ich hab Georg Kreisler 1975 auf dem Mainzer Open-Ohr-Festival getroffen und etwa eine halbe Stunde mit im gesprochen. Er war sehr nett. Zwei Wochen später sprach er mich in Tübingen auf dem Weg zum Schloßhof (damals der zentrale Veranstaltungsort des Tübingfer Folk- und Liedermacherfestivals) an. Er hatte mich wiedererkannt (gut, es gibt Leute, die behaupten, sie hätten mich nach 20 Jahren an meinem Norwegerpulli erkannt).
Und endlich Gelegenheit, die an anderer Stelle angekündigte Kreisler-Anekdote zu erzählen.
Georg Kreisler trat weder in Mainz noch in Tübingen auf, sondern war privat dort (in Tübingen auf Einladung von Bernhard Lassahn, der für das Programm des Festivals verantwortlich war - ich machte damals das Programmheft).
In Tübingen traten einige Leute auf, die man noch heute in anderer Funktion kennt: Lassahn, Thommie Bayer und Gisbert Haefs als Schriftsteller, Ralph Schicha als Schauspieler, Hanns Meilhamer als Comedian. Beppo Pohlmann wurde kurz nach seinem Tübinger Soloauftritt mit Gebrüder Blattschuß und "Kreuzberger Nächte" recht bekannt. Und Günther Wölfle ist heute mein Rechtsanwalt.
Kreisler wollte zwar nicht offiziell auftreten, aber insgeheim hoffte man doch, er würde in kleinem Rahmen in die Tasten greifen. Deshalb wurde ein Klavierstimmer bestellt, der den Drahtesel im kleinen Club Voltaire in der Haaggasse stimmen sollte.
Und tatsächlich erklärte sich Kreisler zu einem kleinen Privatkonzert am Nachmittag bereit. Die Eingeweihten überfüllten den etwa 80 Besucher fassenden Raum, die Eingangstür wurde von einem unerbittlichen Zerberus namens Gretel Holler (Frau des Vereinsvorsitzenden Eckard Holler und von Bernhard Lassahn mit "Selbst die Powerhits von K-Tel sind nicht so powerfull wie Gretel" charakterisiert) bewacht. Eine wunderbare Frauenfeindschaft entstand, als Kristin Horn (auf der Waldeck entdeckt, 1982 Preisträgerin des deutschen Kleinkunstpreises in der Sparte "Chanson") von eben dieser Power-Gretel am gewaltsamen Betreten des Clubs mit ebensolcher Gewalt gehindert wurde. Wenn Blicke töten könnten ...
Ich weiß nicht mehr, welche Lieder Kreisler damals spielte. Aber in Erinnerung blieb unauslöschlich, mit welch ensetzter Miene er die Finger der rechten Hand von den Tasten riß, sobald er in die höheren Bereiche der Tonskala vorstieß. Der Klavierstimmer hatte nämlich nur die unteren zwei Drittel der Seiten gestimmt, die oberen Töne waren durchweg etwa einen Viertelton zu tief (mit einigen Ausreißern nach oben und unten) verblieben.