GATS treibt immer mehr Blüten

Begonnen von Sandra, 14. Januar 2005, 15:13:07

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Sandra

 "Bolkesteinrichtlinie" Schon mal gehört?
Eine echte Gefahr, finde ich.
Hier einmal eine Erklärung:

Worum handelt es sich bei der Bolkesteinrichtlinie und was soll sie bewirken?
Die so genannte "Bolkesteinrichtlinie" ist ein Gesetz für Dienstleistungen, benannt nach dem ehemaligen, für die Bereiche Binnenmarkt, Steuern und Zollunion zuständigen EU-Kommissar Frits Bolkestein, und sie ist quasi der "Zwilling" des internationalen Dienstleistungsabkommens GATS aber halt auf europäischer Ebene.

Diese "Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt" versucht hier nämlich endgültig das zu realisieren, was auf globaler Ebene mittels GATS anvisiert wird. Nämlich die umfassende Beseitigung sämtlicher "Hindernisse", welche den Ansichten der Kommission zufolge im moment noch den "freien und unverfälschten Wettbewerb" am Binnenmarkt für Dienstleistungen verhinderten.

Von der Europäischen Kommission wird diese Richtlinie schon im Februar dieses Jahres vorgelegt, im Moment finden Beratungen in Parlament und Rat statt, bevor die Direktive dann - gemäß der offiziellen Pläne - Anfang 2005 beschlossen und bis 2010 schrittweise umgesetzt werden soll. Noch  ist allerdings nichts entschieden, und das heisst, ein lauter Widerstand dagegen hätte noch Sinn.
Dieser Entwurf für eine Dienstleistungsrichtlinie wird von Kennern der europäischen Binnenmarktpolitik als "bisher radikalster und umfassendster Angriff auf die Sozialsysteme der EU-Staaten" bezeichnet.

Mit welchen Mitteln sollen die festgeschriebenen Ziele realisiert werden?
Als die zwei zentralen, in der Richtlinie festgeschriebenen Deregulierungsinstrumente, können der sukzessive Abbau staatlicher Auflagen und zum anderen das so genannte "Herkunftslandprinzip" betrachtet werden.
Ersteres Instrument umfasst beispielsweise das Verbot mengenmäßiger oder territorialer Beschränkungen, sowie jenes von (einzel-)staatlichen Vorschriften hinsichtlich der Rechtsform oder der Mindestkapitalausstattung von Dienstleistungsunternehmen (Art. 14 & 15). Dadurch geraten jedoch auch durchaus sinnvolle Regulierungen, wie etwa das wettbewerbsrechtliche Verbot von Dumpingpreisen, ins Visier der Liberalisierungsbefürworter. Jeder kann jeden schlucken, aufkaufen, fertig machen, wie es ihm beliebt. Klar: Die von vornherein stärkeren Unternehmen, die sogenannten "global Players" werden jeden Kleinunternehmer ausmerzen.
Und es bedeutet, was vielleicht sogar noch schlimmer ist, dass ein Unternehmen nur noch den Gesetzen seines HERKUNFTSLANDES untersteht - damit können Unternehmen einfach den Firmensitz in jenes Land verlegen, das die Konsumentenfeindlichsten Gesetze hat - und die gelten dann wo immer sie "tochterfirmen" unterhalten.

Die Folgen solcher "Deregulierungsinitiativen" sind unabsehbar. Neben der Beseitigung von Auflagen kommt es auch zur systematischen Erschwerung des Erlasses neuer Rechts- und Verwaltungsvorschriften. (Art. 15/6).

Zu befürchten steht zum Beispiel ein gezielt inszenierter "Standortwettbewerb", in dem sich die Mitgliedsstaaten wechselseitig mit noch idealeren Verwertungsbedingungen für das Kapital zu über-, und mit noch verheerenderen Arbeitsbedingungen für die Lohnarbeitenden zu unterbieten versuchen würden. Ein umfassendes Wettrennen nach Unten hinsichtlich der Standards im Arbeitsrecht und in den sozialen Sicherungssystemen, sowie eine steuerrechtlich beförderte, fortschreitende Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums nach Oben wäre die Folge.

Darüber hinaus betrifft das "Herkunftslandprinzip"  auch die Frage der Kontrolle von Unternehmen, die ja dann nicht mehr länger dem Ziel-, sondern künftig ebenfalls dem Herkunftsland des jeweiligen Dienstleisters obliegen soll (Art. 34 - 38).
Wenn es dem "Herkunftsland" (was anzunehmen ist) jedoch sowohl an Interesse als auch an den dafür nötigen Mitteln fehlt, um eine solche Kontrolle effektiv durchführen zu können,  können Betriebe künftig mit Konsumenten und Arbeitnehmern machen, was sie wollen. Das wird von den verantwortlichen EU-Stellen bewusst unterschlagen.

Es heisst also, wenn man in einer einsamen Gegend wohnt, ist es einfach "unrentabel" Wasser oder Strom zu liefern - und kein Gesetz kann den Unternehmer dazu zwingen. Oder Bahnanschluss. Oder Post.  oder Milch zu Preisen, die sich auch Arme leisten können.

Es sind auch kulturelle und andere "Dienstleistungen von allgemeinem Interesse" von der Richtlinie betroffen
Auch wenn die Kommission in ihrer Erläuterung zur Dienstleistungsrichtlinie beteuert, diese "erstrecke sich nicht auf nichtmarktbestimmte Dienstleistungen von allgemeinem Interesse" (S.17), darf wohl bezweifelt werden, dass die damit angesprochenen, vom "Staat in Erfüllung seiner sozialen, kulturellen, bildungspolitischen und rechtlichen Verpflichtungen" (S.23) ausgeübten Tätigkeiten tatsächlich von ihr unbehelligt bleiben werden.

Dies zum Beispiel  schon deshalb, weil der kulturelle Bereich in der Dienstleistungsrichtlinie keineswegs explizit ausgenommen wird. Genaue Ausnahmeregelungen finden sich hier nämlich nur für Finanzdienstleistungen, Dienstleistungen und Netze der elektronischen Kommunikation und  Bereiche, die bereits von anderen sektoralen Liberalisierungsvorschriften erfasst wurden (Art. 2). (die also zum Beispiel eh schon GATS unterliegen.
ausserdem nennt die Richtlinie bei der Definition des Geltungsbereichs  "Dienstleistung" als jede "selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit, bei der einer Leistung eine wirtschaftliche Gegenleistung gegenübersteht" (Art. 4). Damit sind also quasi sämtliche Dienstleistungen von der Richtlinie betroffen , also wie gesagt auch  Leistungen der Daseinsvorsorge. (Wasser, Strom,  Reisemöglichkeiten, Grundlebensmittel - die können verlangen, was sie wollen, verkaufen an wen sie wollen, etc.)
Und: Aufgrund des Entgeltkriteriums sind kulturelle Bereiche  insofern nicht ausgeschlossen, als beispielsweise auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, für Theater, Museen und Bibliotheken, sowie für den Großteil der Bildungseinrichtungen Entgelte und Gebühren zu entrichten sind.


Klar, dass die sich die Medien nicht stark mit diesem Thema auseinandersetzen - die sind grösstenteils im Besitz von Firmen, die genau von dieser Regelung profitieren würden.

Bitte rasch die Petition gegen den Bolkestein-Entwurf unter //www.bolkestein.orgonline unterzeichnen!



Bassmeister

ZitatEs heisst also, wenn man in einer einsamen Gegend wohnt, ist es einfach "unrentabel" Wasser oder Strom zu liefern - und kein Gesetz kann den Unternehmer dazu zwingen. Oder Bahnanschluss. Oder Post.  oder Milch zu Preisen, die sich auch Arme leisten können.

Ich glaube ja, daß es auch dafür - wenn es denn wirklich soweit ist - einen Ausgleich irgendwie geben wird.

Wenn keiner mehr Strom liefert, dann kann auch keiner einen "Abnahmezwang" oder "Anschlußzwang" mehr verordnen, wie das jetzt der Fall ist. Und in einsamen Gegenden gibt es dann vielleicht wieder Quellwasser, wie ich es aus meiner Kindheit noch kenne, das war um LÄNGEN besser, als die Einheits-Pampe, die jetzt aus dem Rohr quillt. Und keiner kann dich mehr bestrafen, wenn du dir dein Windkraftwerk in den Garten stellst.

Und mit der Milch - da sehe ich jetzt einen Widerspruch: Auf der einen Seite wollen sich die Global Players alle Versorgung unter den Nagel reißen, auf der anderen Seite lohnt sich in den Dörfern der "strukturschwachen  Regionen" dann vielleicht doch wieder die Kuh im eigenen Stall, deren Milch man dann gegen die Eier der Frau Nachbarin tauscht...

Ich glaube, wo Menschen kreativ sind und sich was einfallen lassen, da wird es auch immer Schlupflöcher geben. Und die "breite Masse" wird ja auch heute schon für dumm verkauft.


[size=9]Nicht alles, was zwei Backen hat, ist ein Gesicht...[/size]

Maexl

aha eine weiterführung vom uralten bretton woods... spannend....
wobei man deutschland wieder wegen des entwickelten sozialstaats als sonderfall betrachten muss.
aber der protektionismus baut sich nicht sofort ab.... und in einem ethischen konflikt steht er ja auch.

Sandra

#3
@Bassmeister: Das ist aber schon ein ziemlich blauäugiges Denken, finde ich. Klar, nach Ausrottung der Schwachen werden sich die anderen schon mit der Situation arrangieren......

Und dass sich der Protektionismus nicht von heute auf morgen verändern wird, ist klar - aber es wird auch nicht sooo lange dauern, dass WIR es nicht mehr sehr schmerzhaft erleben.
Schaut Euch Argentinien an, das Role-Model für Neoliberalismus.

Bassmeister

#4
Ich meine nicht die Ausrottung der Schwachen, sondern, daß Menschen - und zwar GERADE die "Schwachen", die in in eine Notlage geraten, erstaunlicherweise in der Lage sind, sich zusammen zu tun und "Aus Scheiße Bonbons zu machen". Das habe ich in  der DDR 17 Jahre lang sehen können. Und Kuba hält sich auch erstaunlich lange gegen die übermächtigen Nachbarn.
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Sandra

#5
Tja. Also, ich finde, da haste nicht genau genug hingeguckt. Da fallen einige unter den Tisch. Mehr, als ich als humanistisch vertretbar empfinde.

Diese beiden Länder - ausgerechnet - sind nicht wirklcih ein Argument. Da HATTE eben jeder das nötigste zum überleben. Aber wenn du plötzlich einfach KEINE Nahrung bekommst, und KEINEN Strom zum Heizen. Kriegste einfach nciht, weil Du hast keine Kohle. (Oder staatliche Marken oder wasweissich) - dann sieht das schon anders aus. Sogenannte Kommunistische Systeme haben sicherlich jede Menge Nachteile. Aber sie lassen die Leute selten auf der Strasse verhungern. Kapitalistische schon.

Bassmeister

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Bastian

Danke, Bassmann! Die Rezensionen lesen sich sehr interessant, bin neugierig geworden und setz es auf die Einkaufsliste. Hab schon mal was vom Rifkin gelesen, aber hab vergessen, wie es geheißen hat. Ein wirklich fleißiger Denker, und für einen Ökonomen recht vielseitig interessiert...