Georg Kreisler Forum

Diskussionen => Kunst => Thema gestartet von: angel am 23. Oktober 2005, 15:39:47

Titel: Verhältnis Akteur - Zuschauer (Theaterarbeit)
Beitrag von: angel am 23. Oktober 2005, 15:39:47
Wie seht Ihr die Theaterarbeit von Augusto Boal? Immerhin hebt er den Widerspruch zwischen Akteur und Zuschauer auf und spielt den gesellschaftlichen Individuen nicht nur die Wirklichkeit vor, sondern macht sie zu Mitspielern.
Ich halte das "Theater der Unterdrückten" (darin enthalten das "unsichtbare Theater) - das ja aus seiner Arbeit mit B. Brecht hervorging - für sehr emanzipatorisch. Dies insbesondere, wenn man sich die Kritik von Adorno/Horkheimer und den "Situationisten" an der "Kulturindustrie" zu eigen macht.

Hier sind einige Links zu Boal und seiner Theaterarbeit:
http://de.wikipedia.org/wiki/Augusto_Boal
http://www.boal.de/
http://www.radikalerkonstruktivismus.de/boal.html

Theater der Unterdrückten:
http://de.wikipedia.org/wiki/Theater_der_Unterdr%C3%BCckten
http://www.theatreoftheoppressed.org/en/index.php?useFlash=1

Und hier noch mehr zu ihm; u.a. ein Interview mit ihm etc.
http://www.google.de/search?hl=de&q=Augusto+Boal&btnG=Suche&meta=

Zu empfehlen ist sein Buch: "Theater der Unterdrückten":
http://www.buch.de/buch/02955/205_theater_der_unterdrueckten.html
Titel: Re: Verhältnis Akteur - Zuschauer (Theaterarbeit)
Beitrag von: whoknows am 23. Oktober 2005, 16:24:54
Ich halte das für sehr interessant und verfolgenswert und ehrbar. Gleichzeitig denke ich, dass es kein Wunder ist, dass diese Form des Theaters nicht in Europa entwickelt wurde: Hier ist mentalitätsmässig, geschichtlich und erzieherisch ein völlig anderer Zugang, ein völlig anderes Verständnis von dem, was man Theater nennt. Daher gibt es auch kein Publikum, das so reagiert.

Theater ist ein Wort für völlig unterschiedliche Aktionen und Rezepzionen. In Asien ist Theater wieder etwas völlig anderes als hier, und wieder völlig anders als das schulische Theater zB in Afrika. Ich glaube nicht, dass man diese unterschiedlichen Formen, mit "einer trägt vor, einer schaut zu" auf die ganze Welt umlegen kann - und ergo wird man hier auch nicht grosses Interesse finden, wenn es eine europäische Art von zB Kabuki gäbe. So ähnlich verhält es sich meiner Meinung nach mit Boals Ansätzen - wobei ich mir hier allerdings vorstellen könnte, das man im Kinder- und Jugendtheaerbereich vielleicht Möglichkeiten findet.
Titel: Re: Verhältnis Akteur - Zuschauer (Theaterarbeit)
Beitrag von: angel am 23. Oktober 2005, 16:47:03
Die Theaterarbeit auf der Basis von Boal ist insbesondere gut für Menschen, die in direkter "Tuchfühlung", d.h. Interaktion mit dem Publikum bleiben wollen. Ferner bietet sie auch unsicheren und ängstlichen Menschen die Möglichkeit, mitzumachen. Jemand, der ängstlich ist, kann z.B. die Rolle des Beobachters einnehmen und in der Nachbereitung seine Wahrnehmung/Beobachtung einbringen.
In der Vorarbeit - zu der auch Vertrauensübungen gehören - kann ferner die Angst überwunden werden. Diese Form des Theaters vermittelt also Selbstvertrauen. Sie eignet sich sowohl für die Jugendarbeit, aber auch zur Überwindung von Kommunikations-Problemen oder zur politischen Arbeit in Hinsicht auf Aktionen des zivilen Ungehorsams.
Titel: Re: Verhältnis Akteur - Zuschauer (Theaterarbeit)
Beitrag von: Dagmar am 23. Oktober 2005, 22:18:24
Es gibt viele verschiedene Ansätze in der Richtung, die teilweise zusammen laufen, sich dann aber auch teilweise wieder getrennt weiter entwickelt haben. Vor dem Hintergrund der Konzeption von Boal hat z.B. Moreno sein Theatermodell entwickelt, dass den Boal'schen Ansatz noch zuspitzt. Ursprünglich hatte Moreno das als reines experimentelles Stegreiftheater unter Einbeziehung des Publikums angedacht. Sehr schnell entwickelte sich daraus eine therapeutische Form des Theaters: Morenos Psychodrama. Das Psychodrama ist heute eine anerkannte Methode für therapeutische Theaterarbeit mit Jugendlichen, aber auch mit Erwachsenen. Parallel dazu entwickelte sich aus diesen Arbeitssträngen das Playback-Theater von Jonathan Fox. Dieser Ansatz basiert auf denselben Grundtechniken der Einbeziehung des Publikums, nahm aber den therapeutischen Anspruch ein großes Stück zurück.

Ich arbeite zur Zeit an einer Konzeption für ein Programm, dass auf Playback UND Chanson aufbaut. Es gibt viele Schwierigkeiten dabei zu überwinden. Ich habe früher lange mit reinem Playback gearbeitet:

ZitatFerner bietet sie auch unsicheren und ängstlichen Menschen die Möglichkeit, mitzumachen

Genau DAS ist die Schwierigkeit. Es ist ein Unterschied, ob die Menschen zusammen kommen, um eine Form von Arbeit an sich selbst zu erfahren. In der Regel gehen sie dafür nicht ins Theater sondern woanders hin. Die die ins Theater kommen, erwarten nicht unbedingt Interaktion und Mitmachtheater. Man kann das hinbringen, unsere Vorstellungen waren immer recht gut besucht. Aber es erfordert sehr viel Erfahrung mit dieser Theaterform und sehr viel Fingerspitzengefühl. Das ganze Arbeitsmodell ist eine schmale Gradwanderung, sehr fragil und leicht zu kippen.

Man muss sehr gut unterscheiden, was man will: Eher therapeutisches Arbeiten oder aber eher Theaterarbeit. Diese ganzen Ansätze von Boal, Moreno und Fox sind faszinierend. Wenn sie aber auch funktionieren sollen und zwar im Theater und nur da, verlangt es sehr sehr gute Vorarbeit, viel Erfahrung und auch Können mit diesen Arbeitsformen, damit das klappt.
Titel: Re: Verhältnis Akteur - Zuschauer (Theaterarbeit)
Beitrag von: whoknows am 24. Oktober 2005, 00:32:20
und eben ein Publikum, das dafür offen ist.
ZitatDie die ins Theater kommen, erwarten nicht unbedingt Interaktion und Mitmachtheater








Titel: Re: Verhältnis Akteur - Zuschauer (Theaterarbeit)
Beitrag von: angel am 27. Oktober 2005, 01:56:10
Hallo,

ich gebe Euch recht, daß Boal kein Theater ist, was in einem spezialisierten Raum stattfindet. Die Bühne ist der Alltag. Sie kann ein Kaufhaus oder ein Restaurant sein. "Theater" kann auf der Straße oder in der U-Bahn stattfinden.
http://www.projektwerkstatt.de/topaktuell/dan/ubunt.html
Titel: Re: Verhältnis Akteur - Zuschauer (Theaterarbeit)
Beitrag von: angel am 03. November 2005, 22:48:40
Wer hin und wieder versucht, das Publikum im Theater - zumeist durch Provokationen - dazu zu bringen, selbst aktiv zu werden, ist Christoph Schlingensief.
Was haltet Ihr von ihm und seiner Arbeit bzw. Herangehensweise?
Titel: Re: Verhältnis Akteur - Zuschauer (Theaterarbeit)
Beitrag von: whoknows am 04. November 2005, 00:00:21
Ursprünglich mochte ich ihn. Inzwischen ist er ein schlechter Klon seiner selbst geworden, finde ich. Ich bin im Übrigen nicht der Meinung, dass er das Publikum zu Aktivität bringen wollte: Seine "Theaterevents" funktionierten erst durch und mit den Medien. ich glaube auch, das war der Plan. Ob das Werk jetzt professionell auf die Beine gestellt wurde, war wurscht  - es ging um die REZEPTION. Alles was er machte, zielte auf die REAKTION der Medien. Genau damit hat er sie an der Nase herumgeführt. Und das war auch das genialische daran. Inzwischen wie gesagt, ist er nur noch Pose. Finde ich.
Titel: Re: Verhältnis Akteur - Zuschauer (Theaterarbeit)
Beitrag von: angel am 04. November 2005, 01:38:25
Whoknows, ich gebe Dir im großen und ganzen recht und denke auch, daß er selbst mit z.B. der "Chance 2000" und dem Versuch, in eine soziale Bewegung zu intervenieren, im Grunde sich selbst inszeniert hat. Doch ein guter Freund sagte mal zu mir: "Selbst wenn jemand narzisstisch ist - wenn er trotzdem gut ist und etwas bewirkt, so kann man den Narzissmus auch als Produktivkraft ansehen..."  

Schlingensief neigt auch zu Tabubrüchen - um Reaktionen hervorzurufen. Er hat auch gute Aktionen gemacht und damit Kontroversen ausgelöst, aber ich kann ihn nicht mehr ernst nehmen. Es ist zu viel Spektaktel und Getöse und zu wenig Inhalt was er und wie er sich (re-)präsentiert, finde ich.
Titel: Re: Verhältnis Akteur - Zuschauer (Theaterarbeit)
Beitrag von: whoknows am 04. November 2005, 11:24:21
Seit er in Bayreuth inszenieren durfte, KANN das Konzept nciht mehr aufgehen. Wenn er mal umarmt wurde von der Hochkultur, isses vorbei. Ich denke, das weiss er auch, und er hat sich wohl bewusst dafür entschieden. Ist vielleicht auch ein Altersfrage - jetzt geht es ihm darum, wirklich mal seine Schäfchen in's Trockene zu bringen.