Günter Grass, ein Gedicht und hohe Wellen

Begonnen von Bastian, 06. April 2012, 13:44:21

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Bastian

Was ist an diesem lausigen Text (laut Grass ein "Prosa-Gedicht"), dass von Broder bis Netanjahu jeder sich dazu äußert? (Irgendwo las ich, dass "vom Iran noch keine Stellungnahme" vorläge...)

Beschäftigt uns die Tatsache, dass sich da einer selbst demontiert, der einmal als moralische Instanz galt? Ist es die Überraschung darüber, dass ein denkfähiger Mensch einfach derart schlecht informiert sein kann? Oder ist da die Furcht, dass antijüdische Ressentiments so dauerhaft sind, dass sie am Ende selbst den klügsten Kopf überleben?

Und wie wenig er inhaltlich zu bieten hat...
http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/ndr_aktuell/media/ndraktuell8427.html

Clas

Moin Bastian,

von Broder bis Netanjahu ist es ja nun nicht weit, scheint mir... Herr Gröhe fand auch noch nie meinen Beifall.

Die Argumentation irgendetwas müsse gesagt werden können, missfällt mir auch. Man probiere das einfach aus. Wenn's geklappt hat, konnte es gesagt werden. Das kann man dann für die Nachwelt notieren.

Die Form des Prosagedichtes muss man nicht mögen.

Der Kern der Aussage, nämlich dass ein präventiver Angriffskrieg oder gar Atomschlag Verbrechen wäre: Mir leuchtet nicht ein, wie man das bestreiten will. Und Antisemitismus sehe ich da auch nicht. Es geht um die Politik einer Regierung eines Staates, um sein Konfliktverhalten, das mir nicht den Eindruck großen Friedenswillens macht, und die kann ich kritisieren. Ich bin für friedliche Lösungen.

Und ich halte eine Kontrolle und die Abschaffung aller Atomwaffen für sinnvoll.

Wenn ich die Politik der Hamas vernagelt finde, ist das ja auch keine antipalistinensische Aussage, die sich irgendwie rassistisch deuten lässt.

Die Antisemitismuskeule finde ich in dem Zusammenhang grob daneben; wenn es inhaltliche Einwände gibt, kann man die formulieren. Wenn sie derart geschwungen wird, ohne dass es inhaltlich zur Sache geht, scheint inhaltlich nix da zu sein. Die Zitate aus der Debatte, die ich bisher las, boten wenig oder keinen Inhalt.

Gruß Clas
"Ach, das Risiko...!" sagte der Bundesbeamte für Risikoabschätzung abschätzig...

Heiko

#2
Was nicht gesagt werden muss.
Man weiß doch was!
Nicht schlucken, sondern speien
vor Pein, die Tinte halten müssen,
Kriegstreiber und SS-Zeit nicht nennen dürfen.


ZitatDer Kern der Aussage, nämlich dass ein präventiver Angriffskrieg oder gar Atomschlag Verbrechen wäre
Hallo Clas,
ginge es um diese Sache, hätte er sich einfach in einer Talkshow oder einem Leitartikel geäußert, um israelische Außenpolitik und deutsche Waffenlieferungen zu kritisieren - ohne dieses Hadern; es hätten einige wie Broder natürlich trotzdem Vorwürfe konstruiert und die SS-Mitgliedschaft bewitzelt, aber die Mehrheit hätte über Krieg und Atomwaffen diskutiert.
Für mich liegt der Kern eher in dieser merkwürdigen Pose, dass gesagt werden muss, was nicht gesagt werden darf.

Grass:
ZitatDas allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,
dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,
empfinde ich als belastende Lüge
und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,
sobald er mißachtet wird;
das Verdikt "Antisemitismus" ist geläufig.
Das Grass´sche Vokabular: Schweigen/ Verschweigen, Unterordnung, Zwang, Lüge, Strafe, Mißachtung ... und alles in Bezug auf das "Verdikt 'Antisemitismus'".
Zu prophezeien ein Antisemit gescholten zu werden, wenn man Israel kritisiert, und dieses ganze Untersagungsgequatsche ist sein persönlicher, aber harmloser Antisemitismus. Und dass trotz seiner Vorhersage so reflexartig darauf angesprungen wird, und diesem intellektuellen Masochismus auch noch ein Antisemitismus-Bad von internationalem Format gegönnt wird, ist deswegen nicht weniger nervig.

Gruß Heiko

"I would prefer not to."

Burkhard Ihme

#3
Außer Clas scheint aber niemand der Meinung zu sein, Grass könne in irgendeiner Weise mit seiner Kritik des angedachten Präventivschlags gegen den Iran Recht haben. In jeder Kritik, die ich gelesen habe, wird Grass' Meinung als völlig weltfremd und dämlich bezeichnet, seine "Das muß gesagt werden"-Volte ist immer erst der zweite Punkt. Und dann maßt sich jeder an, beurteilen zu können, was ein gutes Gedicht ist. Wolf Biermann mag man das zugestehen, aber die meisten haben doch gar keine Ahnung, wovon sie reden.

Heiko

ZitatAußer Clas scheint aber niemand der Meinung zu sein, Grass könne in irgendeiner Weise mit seiner Kritik des angedachten Präventivschlags gegen den Iran Recht haben. In jedem Kritik, die ich gelesen habe, wird Grass' Meinung aus völlig weltfremd und dämlich bezeichnet, seine "Das muß gesagt werden"-Volte ist immer erst der zweite Punkt.
Naja, habe auch viel Zustimmung für seine Israelkritik wahrgenommen. Und würde er die gleiche Kritik ohne den Gestus des Tabubrechers äußern, wäre es aus meiner Sicht zwar immer noch einseitig, aber nicht grundsätzlich falsch.
"I would prefer not to."

Burkhard Ihme

Hab ich nicht wahrgenommen, lese aber auch keine rechte Presse oder rechte Websites. Wahllos herausgegriffen:

ZitatMan sollte sich die Debatte um das missratene Gedicht eines deutschen Literaturnobelpreisträgers in Israel nicht übermäßig aufregend vorstellen.
Wer entscheidet, ob ein Gedicht mißraten ist? Würden sich die selben Leute in gleichem Maße kompetent fühlen, wenn es ein Liebesgedicht wäre? Oder würde ihnen da der apodiktische Vorwurf "reimt sich ja gar nicht" als Boomerang um die Ohren fliegen?

Heiko

#6
ZitatHab ich nicht wahrgenommen, lese aber auch keine rechte Presse oder rechte Websites.
Ich auch nur ungern und meinte die auch gar nicht. Es gibt aber durchaus Zustimmung aus einigen linken Richtungen. Nicht nur das Neue Deutschland oder "scharf-linke" Blogs, ebenso der liberale Freitag, aber eigentlich die Leserbriefspalten fast aller Zeitungen danken Grass für die befreienden Worte.
"I would prefer not to."

Burkhard Ihme

#7
Ich habe vor allem das Medienecho, insbesondere im Fernsehen wahrgenommen. Und da war kein einziger, der Grass' Position auch nur ein Fitzelchen Realitätsgehalt zugesprochen hat.
Mittlerweile geht es aber auch anders (auch wenn es da nicht um das Gedicht von Grass geht):
http://www.taz.de/Debatte-Guenter-Grass/!91171/

Bastian

#8
ZitatDie Argumentation irgendetwas müsse gesagt werden können, missfällt mir auch. Man probiere das einfach aus. Wenn's geklappt hat, konnte es gesagt werden. Das kann man dann für die Nachwelt notieren.
Ja, sehe ich auch so. So würde es der unverkrampfte Praktiker tun. Etwas geradeaus zu sagen hätte nebenbei auch den Vorteil, dass das Ergebnis klarer auf der Hand läge und nicht durch Unterstellungen, selffulfilling Prophecies und ähnlichen Quark verfälscht wäre.

Wenn man aber kein unverkrampfter Praktiker ist, sondern Günter Grass, dann macht man das so:
"Warum schweige ich, verschweige zu lange,... Doch warum untersage ich mir, jenes andere Land beim Namen zu nennen,... Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,... und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,... das Verdikt 'Antisemitismus' ist geläufig..."

Unterstellung um Unterstellung... Um dann aus der selbstzusammengefaselten Verteidigungshaltung mit:

"Jetzt aber ..."

loszulegen. (Und das sind nur die ersten vier Absätze des Textes, die Unterstellungen hören ja auch danach nicht auf.)

Ich finde es einfach irre, dass Grass auf so durchsichtige Weise darum bettelt, dass man ihm doch büddebüdde Antisemitismus* vorwirft. Dabei ist er sogar so unentspannt, dass er den Begriff selbst als erster ins Spiel bringt (s.o.). Winkewinke, denn es könnte ja sein, dass ein Kritiker seinen Text missdeutet.
Grass weiß ganz genau, dass der Text ohne diesen krampfhaft insinuierten Vorwurf wie ein Soufflé in sich zusammenfallen würde.

Was bliebe denn von dem Text, wenn man die ganze aufgesetzte Rechtfertigungsrhetorik wegließe? Er hätte dann halt kritisiert, dass Israel Atomwaffen hat und ein U-Boot von Deutschland bekommt.

Jo. Keine unaussprechlichen Geheimnisse, also. Aber interessant, und darüber könnte man ja sachlich reden- ohne Gesinnungsdebatte und ohne die provozierten persönlichen Angriffe, denn denen hätte er auf die sachliche Tour den Wind aus den Segeln nehmen können. Wenn ihm also an der Sache so gelegen war, müsste man meinen, dass er sie besser ausgearbeitet hätte. Hat er aber nicht.

Stattdessen hat er sich selbst zum Thema des Textes gemacht (19 mal allein das Wort "Ich", sagt mir ein schlaues Programm). Er spricht über den längsten Teil des Textes von sich selbst und seiner Verkrampfung und macht sich damit selbst zum Objekt der zu erwartenden Kritik. Jetzt ist er verletzt.

Ich denke es ist ihm halt einfach mal wieder gelungen, sich selbst zu inszenieren. Mit Broder am Licht und Netanjahu am Ton...

ZitatUnd dann maßt sich jeder an, beurteilen zu können, was ein gutes Gedicht ist. Wolf Biermann mag man das zugestehen,...
Der Biermann- Artikel hat sich in meinen Augen wohltuend abgehoben. Was mich interessieren würde: Was hältst Du von dem Text? So poetologisch-formal, mein ich. Reichen keine Reime und kein rythmisch interessantes Metrum für ein Gedicht?

Ui, die Uhr. Ich muss mal wieder arbeiten.

Grüße
Bastian

*Antisemitismus: Ich hab das Wort schon vor Jahren ersatzlos aus meinem Wortschatz gestrichen. Macht vieles leichter und es fehlt mir nicht.

Clas

Moin Bastian,

das ist ja nun der Text. Der kündet von Betroffenheit. Also braucht es das "Ich". Das eigentliche Prosagedicht... Man muss die Form nicht mögen, und warum Gedicht...? Der Autor sagt, es sei eines, und der muss es ja wissen. Er schreibt sowas ja öfter. Ich weiß es nämlich nicht, ich bin kein Deutschlehrer. (Da kenn ich eine nette Geschichte: Deutschunterricht, Oberstufe, irgendwas von Gras. Was will der Dichter damit sagen. Ein Schüler weiß es anders, als der Lehrer will, besteht hartnäckig auf seiner Version. Der Lehrer auch. Der Lehrer wirft ihn schließlich wegen seiner Hartnäckigkeit raus. Der Direx fragt den, was er da mache. Er sei rausgeworfen worden, weil er eine andere Auffassung als der Lehrer zur Intention des Dichters vertreten habe. Referiert die. Rückfrage an den Lehrer. Der Schüler sei rechthaberisch und hartnäckig im Irrtum und das störe den Fortgang des Unterrichtes. Der Schüler: Nun ja, was er wisse, wisse er halt. Wie er denn drauf komme? Nun ja, er habe ihn gestern in der Kneipe getroffen und gefragt...)

Ich habe ihn nie getroffen, und weiß daher nicht, woran er das Gedicht festmacht. Spontan ist es der Satz, die ungewöhnliche Aufteilung in Zeilen. Und: Nein, mir persönlich reicht das nicht als Kriterium für Lyrik, ich habe aber in der Schule gelernt, das Prosagedichte eben so seien. Auch wiesen sie häufig Schlüsselwörter auf, die wiederholt würden. Was hatte Dein Computer gezählt?

Wenn man nun aber die Rezeption anguckt: Ist da des Getöses nicht ein weniges zu viel getöst? Bei gleichzeitigem Schweigen zum Inhalt? Auch zur Form habe ich nur wenig gefunden, das irgendwie den Details mal näher trat. Wirkt fast orchestriert, da hast Du recht.

Und wenn er noch so drum bittet: warum bitte erhält er da nicht ein bleiches Nein? Warum meint jeder, aber wirklich fast ausnahmslos jeder, der das Wort kennt, Antisemitismus vorwerfen zu müssen? Sich empören zu müssen? Bei Broder ist es beruflich, denke ich. Der lebt davon, damit verdient er Geld.

Aber wieso erklärt Israel ihn deswegen zur unerwünschten Person? Wieso lässt ihn die SPD aus diesem Grund nicht für sich wahlkämpfen? Seit wann will die die Wahl gewinnen? Und wieso steht die ganze Welle so in der Zeitung? Und nix, aber auch gar nix zur Sache? Außer einem etwas schwebend vorgeworfenen Realitätsverlust, vielleicht. Auch da aber keinerlei Begründung.

Den Biermann les ich morgen nach.

Gruß Clas
"Ach, das Risiko...!" sagte der Bundesbeamte für Risikoabschätzung abschätzig...

Burkhard Ihme

#10
ZitatWas mich interessieren würde: Was hältst Du von dem Text? So poetologisch-formal, mein ich. Reichen keine Reime und kein rythmisch interessantes Metrum für ein Gedicht?
Ich kann grundsätzlich wenig mit dieser Form anfangen. Das betrifft dann aber die Hälfte der Gedichte der letzten hundert Jahre.
Das heißt aber auch, ich beurteile das dann nur über den Inhalt (außer, jemand versucht sich doch an Reim und Metrik: Da werd ich dann zum Berserker, wenn es nicht stimmt).
"Es wird nicht immer ein Weg draus, wenn sich wer mit der Planierraupe verfährt" von Thomas C. Breuer greift zum Beispiel Rap-Rhythmen auf, reimt sich aber nicht (was wieder unter Rap-Gesichtspunkten nicht ganz so prickelnd ist). Es ist aber witzig und gefällt durch den Inhalt. Auf diesen Schimmel kann man aber auch was ganz Dröges setzen: "Der Günther Grass ist ein Dichter, aber leider in der Birne nicht mehr dicht". Bei beiden macht es aber nur bedingt Sinn, das formal-ästhetisch und womöglich diametral zu bewerten.

Und wieso wirfst du Grass die Rechtfertigungsrhetorik vor? Sind nicht alle seine Romane der letzten dreißig Jahre nach diesem Muster gestrickt (hab sie nicht gelesen, aber geht es nicht in "Beim Häuten der Zwiebel" und anderen Werken um sowas?).
Und es ist albern anzunehmen, ohne diese Volte wäre der Vorwurf des Antisemintismus nicht gekommen. Walser hatte in seiner Rede mit der "Auschwitzkeule" schon recht.

Bastian

#11
Zitat
Wenn man nun aber die Rezeption anguckt: Ist da des Getöses nicht ein weniges zu viel getöst? Bei gleichzeitigem Schweigen zum Inhalt?

Ich hab den Eindruck, dass sich da die Geister scheiden. In der Bewertung, was Getöse ist und worin der Inhalt des Textes besteht, meine ich.

Ich habe es zum Beispiel nicht als Getöse empfunden, sondern war eher überrascht, dass schon in den ersten zwei Tagen nach Erscheinen so viele Analysen zu lesen waren, in denen der Text sorgfältig zerpflückt und die Kernaussagen herausgearbeitet wurden. Anscheinend gibt es noch Journalisten, die es verstehen, hart am Text zu arbeiten.

Inhaltlich ist ja- zieht man das Theater ab- nicht viel Fleisch am Knochen:
- ein paar Sachaussagen, wie die Tatsache, dass Israel mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit Atomwaffen hat und von Deutschland hin-und wieder ein U-Boot bekommt. Die Tatsachen sind ja nun lange bekannt und ebenso lange gibt es Kritik daran. Also erzählt und Grass in diesen Punkten nix neues.

- und es gibt ein paar steile Behauptungen, wie die Verdrehung Israel könnte oder wolle gar "das iranische Volk auslöschen". Und- wie ich finde- der Gipfel: Israel gefährde den Weltfrieden. Nicht Syrien, wo seit Monaten geschlachtet wird. Nicht die umliegenden Nachbarländer, die aus einer Vielzahl von Gründen Terror u.a. gegen Israel finanzieren. Nicht der Iran, der tatsächlich auf dem Weg zur A-Bombe ist, und der Israel von der Landkarte tilgen möchte. Nein, laut Grass gefährtet Israel den Weltfrieden.

Heißt das umgekehrt, dass laut Grass Israel für den nächsten Weltkrieg verantwortlich ist?

OK, das gehört schon in den Bereich der Interpretation und ich will nicht tösen. Israel hat jedenfalls keinem Staat der Welt mit einem solchen Angriff gedroht. Umgekehrt gibt es kein anderes Land in der Welt, dass wie Israel seit seinem Bestehen solchen Drohungen ausgesetzt war und ist.

Grass stellt das in seinem "Gedacht" (W.Biermann) auf den Kopf und so wurde der Text inhaltlich auseinandergenommen. Als tösend habe ich da nur der ad Hominem gerichteten Vorwurf des Antisemitismus empfunden. Es hätte gereicht, dem Gedicht anti... Klischees vorzuwerfen.

Aber es gibt auch die andere Sichtweise, nach der das nicht der Inhalt des Gedichts sei. Wenn ich das richtig verstehe geht es da eher um die mögliche  Botschaft des Textes, die da lauten könnte: "Atomwaffen sind schlecht. Wir brauchen Kontrollen. Und Israel darf da keine Ausnahme sein."

Auch gut. Das kann ich unterschreiben.
Wer dies als die Kernaussage des Gedichts ansieht (und den Rest ausblendet), mag der Auffassung sein, es würde bis jetzt am Inhalt vorbeigeschrieben. Ich sehe das nicht so.

ZitatUnd wenn er noch so drum bittet: warum bitte erhält er da nicht ein bleiches Nein?

Reine Menschlichkeit. Grass würde das nicht überleben.

Hach, eigentlich ist mir doch eher nach tösen.

Avi Primor sagt gutes, ruhiges zum Thema. Und Schirrmacher hat eine schöne Analyse. Lauter gute Stimmen, aber ich muss gestehen, im Moment stehe mir Broder (oder ich ihm) näher als sonst. Vielleicht in einem anderen Beitrag.

Grüße
Bastian

Bastian

#12
ZitatUnd wieso wirfst du Grass die Rechtfertigungsrhetorik vor?
Weil ein gutes Argument ohne auskäme.

ZitatUnd es ist albern anzunehmen, ohne diese Volte wäre der Vorwurf des Antisemintismus nicht gekommen.
Wahrscheinlich hätte sich der ein oder andere den Vorwurf trotzdem nicht verkneifen können. Heiko hat es oben sehr gut geschrieben, und um nicht das selbe zu sagen, schließe ich mich an:

Zitatginge es um diese Sache, hätte er sich einfach in einer Talkshow oder einem Leitartikel geäußert, um israelische Außenpolitik und deutsche Waffenlieferungen zu kritisieren - ohne dieses Hadern; es hätten einige wie Broder natürlich trotzdem Vorwürfe konstruiert und die SS-Mitgliedschaft bewitzelt, aber die Mehrheit hätte über Krieg und Atomwaffen diskutiert.

Wenn ich lese, was Du zu den Prosa-Gedichten schreibst, wird mir klar, dass ich mich damit mal mehr auseinandersetzen könnte. Die Beispiele, die Du anbringst, würde ich spontan in die Schublade "Aphorismus" packen aber sicher sind auch da die Grenzen unscharf. Und für einen Aphorismus ist Grassens Text noch sicherer viel zu breit...

nochmal Grüße
Bastian

Burkhard Ihme

Zitat
ZitatUnd wieso wirfst du Grass die Rechtfertigungsrhetorik vor?
Weil ein gutes Argument ohne auskäme.
Und ein Gedicht kommt zur Not auch ohne Argumente aus, aber nicht ohne Rhetorik.

Heiko

#14
ZitatWalser hatte in seiner Rede mit der "Auschwitzkeule" schon recht.
Wenn ich mich recht erinnere, hat Walser lediglich den Begriff "Moralkeule" gebraucht. Aber ob nun Moral- oder Ausschwitzkeule, auch diese Begriffe sind und bleiben schlicht Keulen, mit welchen man bestimmte Auseinandersetzungen führen kann. Nun war Walsers Rede elegant, seine Vorbringungen waren berechtigt, aber der Ausdruck (Moral-)Keule eben leider sehr ... plakativ. Den Grad der Reflexion von Walsers Rede erreicht Grass mit seinem Gedacht nicht ansatzweise. Bei Walser muss zudem die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Reisch-Ranitzki mitgedacht werden.

Anti-semi-tis-mus ... nein, ich habe keinerlei Interesse irgendeinen, auch nicht diesen Begriff aus meinem Vokabular zu streichen. Klar, es gibt hässliche Worte. Zu denen gehört Antisemitismus aber nicht. Schon eher zu den unscharfen, denn was ist heute schon oder noch ein Semit? Sich zu empören, dass andere sich mit diesem Begriff empören, führt auch nicht weiter.

An dieser Stelle erkenne in der Grass-Debatte Befindlichkeiten, dass einer der eigenen attackiert wird. Antisemitismus-Vorwürfe scheinen auch irgendwie einer der wenigen Punkte zu sein, mit denen das linke Spektrum moralisch zu spalten ist. Man braucht gar nicht weit zurück gehen, um einseitig pro-palästinensische Positionen aus linken Richtungen zu belegen. Da war beispielsweise die Abspaltung der "jungle world" von der "Jungen Welt", welche nicht zuletzt durch die Naher-Osten-Kontroverse entzündet wurde. Oder das "Freie Sender Kombinat" in Hamburg, dass vor etwa zehn Jahren aufgrund antiisraelischer Radiobeiträge kurz vor der Einstellung  stand. Nicht zuletzt die Isolierung der Antideutschen innerhalb der Linken ("Lieber alleine, als in solcher Gesellschaft") publizistisch vertreten durch die konkret.
Die Kritik gegen Norman Paech und anderen Politikern Der Linken zu ihren versuchten "Hilfslieferungen" nach Gaza und das Vorgehen der Israelis, war allerdings ziemlich überzogen. Und das darf auch gerne gesagt werden.
http://de.wikipedia.org/wiki/Ship-to-Gaza-Zwischenfall

Ich hab mit ernsthaften, aggressiven Antisemitismus in meinem Leben erst zwei bis drei mal Erfahrung gemacht (, abgesehen davon, dass ein gefährlich sinnentleertes "Jude" es allmählich in den Schimpfwortgebrauch Jugendlicher geschafft hat). Und diese Begegnungen haben mich jedesmal überrumpelt, gerade weil sie so selten vorkamen. Viel häufiger sind mir gewöhnliche Rassismen begegnet. Meistens handelt es sich um Aversionen gegen dunkle Hautfarben mit entsprechendem Vokabulargebrauch. Und auf ein solches angesprochen, bzw. auf die Wir-Ihr-Unterscheidungen meiner Mitmenschen hingewiesen, musste ich nicht selten den Vorwurf der Rassismus-Keule hinnehmen. Es wurde nicht unbedingt dieser Begriff verwendet, war aber strukturell der Walser-Keule ähnlich.


"I would prefer not to."

Burkhard Ihme

#15
ZitatBei Walser muss zudem die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Reisch-Ranitzki mitgedacht werden.
Wir sind zwar im Kreisler-Forzm, aber sein Vetter hatte mit Walser wohl nie was zu tun.

Clas

Moin Heiko,

Keule, wem Keule gebührt. Wenn jemand sich rassistisch äußert, dann passt die Keule. Wenn jemand die Politik oder die Politiker eines Landes kritisiert, passt sie nicht. Wenn er beides  macht, führt sie nicht weiter, wenn sie die einzige Reaktion bleibt...

Das ist ja nun inzwischen auch nicht mehr der Fall, was den Grass angeht.

Immerhin fiel doch auf, dass jetzt bei den Verhandlungen über iranische Atomanlagen das Verhandlungsklima als konstruktiv gelobt wird. Was rauskommt, wird man sehen, aber sonst gab es immer nur Verweigerungshaltung und unannehmbare Vorbedingungen und deren Zurückweisung...

Offenbar gibt es ja eben nicht nur die offizielle Politik. Hinter den Schlagzeilen ist ein Video verlinkt, eine Botschaft eines Israeli an die Iraner. Mein Computer mag gerade mal wieder keine Videos, Windows 7 ist eine Zumutung, was das angeht. Daher statt eines Links ein Auszug aus dem Text dazu: "Was immer die Politiker sagen, es gilt nicht für alle Israelis. Wir hassen euch nicht. Wir sind Menschen wie ihr: Väter, Mütter, Kinder, Brüder, Schwestern." Das, so meine ich, gilt es zu bedenken.

Gruß Clas
"Ach, das Risiko...!" sagte der Bundesbeamte für Risikoabschätzung abschätzig...

Bastian

#17
Zitat
Zitat
ZitatUnd wieso wirfst du Grass die Rechtfertigungsrhetorik vor?
Weil ein gutes Argument ohne auskäme.
Und ein Gedicht kommt zur Not auch ohne Argumente aus, aber nicht ohne Rhetorik.
Damit hast Du schon recht. Und l'art pour l'art... Bei einem Gedicht aber, das politisch wirksam sein und ernstgenommen werden will, sehe ich arge Not, wenn es argumentativ auf beiden Beinen hinkt. Wenn ich als Dichter möchte, dass mein Gedicht die Realität berührt, muss ich wissen, dass genau an dieser Stelle auch die Realität mein Gedicht berührt. Drum mach ich es ja. Und wenn ich da einen Käse schreibe, darf aus der Restrealität auch die Kritik "Käse" kommen...

Clas

Moin, moin,

im Hintergrund gibt es dazu noch eine Reihe von Statements: http://www.hintergrund.de/201204062011/feuilleton/zeitfragen/was-auch-noch-gesagt-werden-muss.html . Weitere werden wohl folgen.

Gruß Clas
"Ach, das Risiko...!" sagte der Bundesbeamte für Risikoabschätzung abschätzig...

Heiko

#19
Gewiss, gewichtige Stimmen, Chomsky. Krippendorf, ...
aber dass es gleich wieder die Keule "medialer Amoklauf" sein muss, wie es die Redaktion zur Einleitung schreibt, entspannt das Diskussionsklima auch nicht gerade. Zumal Amokläufe normalerweise einen Täter und mehrere Opfer haben, und nicht wie im vermeintlichen Fall Grass ein Opfer und viele Täter.
Will man über Israel, Krieg und Atomwaffen reden, wäre es einfach zu tun. Stattdessen werden andere Ansichten verschwörungstheoretisch einer gleichgeschalteten Presse zugeordnet. Doch kaum jemand mag beantworten, wer die eigentlich gleichschaltet.

In einem antigrassistischen Beitrag der jungle world  schreibt Klaus Bittermann über Grass´ eisernes Schweigen:
http://jungle-world.com/artikel/2012/15/45225.html
ZitatNun ist es aber nicht so, dass Grass bisher aus seinem Herzen eine Mördergrube gemacht hätte. Schon im Oktober 2001 sagte er in einem Interview mit Spiegel Online: »Israel muss nicht nur die besetzten Gebiete räumen. Auch die Besitznahme palästinensischen Bodens und seine israelische Besiedlung ist eine kriminelle Handlung. Das muss nicht nur aufhören, sondern rückgängig gemacht werden. Sonst kehrt dort kein Frieden ein.« Klar, am besten zieht sich Israel aus Israel zurück, denn irgendwie haben die Israelis dort gar nichts verloren. [...] »Es ist für mich auch ein Freundschaftsbeweis Israel gegenüber, dass ich es mir erlaube, das Land zu kritisieren – weil ich ihm helfen will[ch8201]... Solche Kritik aber zu kritisieren – damit muss man aufhören[ch8201][...]«
Den letzten Satz lasse man langsam wirken.

"I would prefer not to."

Burkhard Ihme

Ich finde den vorletzten Satz allerdings wesentlich brisanter.
Der letzte Satz ist nicht vollends ausformuliert. Gemeint ist doch wohl, daß der Kritik inhaltlich etwas entgegengesetzt werden muß, statt reflexartig zu kritisieren, daß Kritik geäußert wurde.

Heiko

ZitatDer letzte Satz ist nicht vollends ausformuliert.
Der Rest des Satzes in Bittermanns Artikel: "...[ch8201]dieses Auge um Auge, Zahn um Zahn der gegenwärtigen Politik schaukelt allen Zorn nur noch weiter hoch.", den ich ausgelassen habe, entspricht nicht der Reihenfolge im Original-Interview mit Spiegel, in dem es tatsächlich weiter heißt:  "Und genauso dumm ist es, Kritik am Krieg in Afghanistan als antiamerikanisch abzutun."

ZitatGemeint ist doch wohl, daß der Kritik inhaltlich etwas entgegengesetzt werden muß, statt reflexartig zu kritisieren, daß Kritik geäußert wurde.
Kann sein, gesagt wird aber nur: ich darf kritisieren und ihr nicht. Eine Haltung, die auch viele Eltern und Lehrer für sich beanspruchen (und mit der sie zu Recht häufig, leider nicht oft genug, scheitern). Aber als solche will Grass ja gar nicht verstanden werden, sondern ... als ein Freund, der es ja nur gut meint.

Marschall Reich-Radetzky hat gesagt und es in der Grass-Debatte wiederholt, dass Antisemiten stets die Nähe von Juden suchten. Oder anders gefragt: wie antisemitisch ist eigentlich Philosemitismus? Das ist natürlich äußerst perfide.
Wer würde zum Beispiel schon diesem freundlichen Musik-Video vorwerfen wollen, dass Klischees in der Darstellung von Juden bedient werden:
"I would prefer not to."

Bastian

ZitatMarschall Reich-Radetzky hat gesagt und es in der Grass-Debatte wiederholt, dass Antisemiten stets die Nähe von Juden suchten. Oder anders gefragt: wie antisemitisch ist eigentlich Philosemitismus?

Gibt's da nicht sogar einen alten jüdischen Spruch, sinngemäß: "Gott, bitte schütze mich vor meinen Freunden! Gegen meine Feinde kann ich mich selbst wehren."

Burkhard Ihme

Zitat
Marschall Reich-Radetzky hat gesagt und es in der Grass-Debatte wiederholt, dass Antisemiten stets die Nähe von Juden suchten.
Das entlastet dann ja Günter Grass. Laut Avi Primor ist es dem israelischen Botschafter in Berlin 13 Jahre lang nicht gelungen, eine Audienz bei Grass zu erhalten.

Burkhard Ihme

#24
Und die Kritiker des Grass-Gedichtes sollten sich mal diese Seite anschauen. Formal sehe ich da, abgesehen von der Länge, keine großen Unterschiede.