Van Gogh und die Kopftuchfrage

Begonnen von Sandra, 17. November 2004, 10:09:19

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Alexander

Gefunden bei "Neues Deutschland":

Die Kopftuchfrage als Wacht über das Jungfernhäutchen
TV-Tipp: Das neue Selbstbewusstsein der Muslima Seyran Ates
 
Von Gitta Düperthal
 
Wir reden über sie, jedoch nicht mit ihnen«, so kommentiert der Filmemacher Marcel Kolvenbach in seinem Film »Wie es mir gefällt – Das neue Selbstbewusstsein der Muslima in Deutschland«. Und dann lässt er die muslimischen Frauen selber reden. Zum Beispiel die Berliner Anwältin Seyran Ates, die von vornehmer Scheinliberalität in der Kopftuchfrage überhaupt nichts hält. Auf diese Weise soll die Frau in ihrer Sexualität kontrolliert und eingeschränkt werden, – es geht um nichts anderes als bei der Überwachung des Jungfernhäutchens, meint Ates: Hierarchische und gewalttätige Strukturen einer patriarchalischen Gesellschaft sollen aufrecht erhalten werden.
Seyran Ates Argumentation ist schlüssig. Selbst wenn Frauen ihr ins Gesicht sagten, sie trügen das Kopftuch aus freiem Willen, so ist sie nicht bereit, dies zu glauben. Das Tragen des Kopftuchs sei grundsätzlich auf das andere Geschlecht gerichtet. Frauen wollten auf diese Weise ihre Schönheit und ihre Reize vor den Männern verbergen. Dies bedeute Unterordnung, und sei keineswegs Ausdruck selbstbestimmter religiöser Identität, da ist sich Seyran Ates ganz sicher. Sie rät deshalb, den deutschen Grundgesetzartikel ernst zu nehmen, der die Gleichbehandlung der Geschlechter festschreibt. Wozu all diese verschrobene Toleranz?
Ates weiß, wovon sie spricht. In ihrer türkischen Familie im Berliner Wedding ist sie aufgewachsen. Die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit wurde ihr untersagt. In einer kleinen miefigen Wohnung wurde sie weggeschlossen. Doch zur Zeit der Studentenrevolte gelang es ihr dennoch, einen Blick durch ein Fenster zu riskieren – und die vermeintliche Wirklichkeit der Deutschen zu entdecken, berichtet sie in Marcel Kolvenbachs Dokumentarfilm.
Es stört nicht, dass solche Bilder vom Fernsehautor nachgestellt sind. Für wenige Augenblicke werden diese für die ehemals kleine Muslimin beeindruckenden Bilder jener Zeit, als Studenten von Flower-Power und freier Liebe nicht nur träumten, für den Fernsehzuschauer real. In diesem Zusammenhang geht es um Vorurteile, die aus Unkenntnis resultieren. Weil kein Kontakt zu Deutschen bestanden habe, hätten ihre Eltern angenommen, alle Deutschen praktizierten Partnertausch und freie Sexualität, schmunzelt Seyran Ates.
Mythos hin, Mythos her. Seyran Ates ist ihre Befreiung gelungen – wenn auch unter Lebensgefahr. Sie floh in ein besetztes Haus und leistete in einem Laden emanzipative Beratung und unterstützte andere muslimische Frauen. Nur schwerverletzt überlebte sie die Attacke eines wildgewordenen türkischen Rächers und finsteren Patriarchen, der eine andere Frau in ihrer Gegenwart erschoss. Heute hat Seyran Ates eine eigene Rechtsanwaltskanzlei. Beim Christopher-Street-Day tanzt sie ausgelassen.
Doch Marcel Kolvenbach zeigt nicht nur diese Muslima mit ihrem sehr bewegten Leben, sondern auch die konservative Erzieherin Sahar El-Qasem. Sie hat sich für das Kopftuch entschieden und versteht ebenso leidenschaftlich zu argumentieren wie die Berliner Rechtsanwältin. Die ideologische Spannbreite der Minderheitengesellschaft von Immigranten ist eben genauso breit und vielfältig wie die der Deutschen. Bekanntermaßen gibt es ja auch strenggläubige Christinnen, die nichts unversucht lassen, um die Bibel als feministische Streitschrift zu interpretieren.
Der Film ist hervorragend geeignet, solch unterschiedliche Weltanschauungen und Lebensgeschichten von muslimischen Frauen besser verstehen und einordnen zu können. Somit entkräftet der Autor überzeugend das immer noch weit verbreitete Vorurteil, Menschen seien hauptsächlich durch ihre nationale Herkunft geprägt. Ergo: Hat nicht eine libertäre deutsche Emanze mit einer aufgeweckten türkischen Frauenrechtlerin mehr gemein als mit einer neoliberalen deutschen Unternehmerin oder einer kuchenbackenden unterwürfigen Landfrau? Solche »Feinheiten« kann man durch den Film begreifen, ohne dass sie ausgesprochen werden.

WDR, heute, 22.30 Uhr.

(ND 24.11.04)


http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=63330&IDC=4
,,Die Kunst ist eben keine hübsche Zuwaage – sie ist die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet, sie garantiert unser Mensch-Sein." (Nikolaus Harnoncourt)