Neuer Tabubruch im Fernsehen

Begonnen von Sandra, 23. Juli 2003, 16:28:42

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Sandra

Und schon wieder ein interessanter Artikel in meinem Leibblatt. Würde mich interessieren, was Ihr davon haltet?

Im Rahmen des Thementages "Asyl" betritt der britische Sender BBC 1 Mittwoch um 20 Uhr neues Fernsehterrain: Vier reale Fälle von Asylwerbern werden durch rekonstruierte Spielszenen mit Schauspielern sowie Interviews mit den Betroffenen vorgestellt.

Alle vier Asylanträge wurden bereits von den britischen Einwanderungsbehörden entschieden, mindestens einer der Flüchtlinge wurde abgewiesen. Am Ende des einstündigen Programms mit dem Titel "You the Judge" ("Du bist der Richter") entscheidet das Publikum via Telefon, SMS, Digitalfernsehen über das Schicksal der Flüchtlinge: "play" oder "eject" - reinlassen oder abschieben. Präsentiert wird die Show vom neuen BBC-Korrespondentenstar Rageh Omaar (die "Washington Post" nannte ihn "Scud Stud", zu Deutsch in etwa "der tolle Bomben-Hecht von Bagdad").

Experten wägen nun das Für und Wider der Fälle ab. Schon bei den Vorbereitungen für diesen Teil des Thementags "Asyl" musste die BBC teils heftige Kritik einstecken. Der Sender mache aus Asyl eine Spielshow, erboste sich der Guardian. Die Mehrzahl der Nichtregierungsorganisationen, die die BBC um Zusammenarbeit gebeten hatte, lehnte dankend ab.

Das umstrittene Format ist nicht neu. In einem Spezialprogramm zu Verbrechen mit demselben Titel hatte man vergangenes Jahr reale Verbrechen in all ihren Facetten präsentiert und das Publikum aufgefordert, Strafen zu vergeben. Überraschenderweise, so ein Pressesprecher der BBC in Reaktion auf Kritik zu dem Format, "urteilte das Publikum weniger streng als die echten Richter". Man vertraue darauf, so der Sprecher, dass auch im Falle der Asylwerber das Publikum milde gestimmt sein wird. Das Format sei ein Versuch, "innovatives Fernsehen zu produzieren", und durch das populäre Element der Abstimmung ein breites Publikum zu gewinnen.

Genau hier haken die Kritiker ein. Das Element der Abstimmung sei problematisch, die Gefahr der Trivialisierung des Ganzen massiv. "Hat man bedacht, wie sich ein Flüchtling fühlen wird, der vom Publikum ,abgeschoben' wird?", fragt Mike Jempson von der Gruppe Presswise. Der Sprecher der BBC entgegnet, dass die vier Flüchtlinge, deren Fälle dargestellt werden, sich der Problematik bewusst sind, außerdem kämen sie selber zu Wort. Wie "You the Judge" zum Verbrechensschwerpunkt, soll auch das aktuelle Programm vorerst ein einmaliges Fernsehereignis bleiben, ob Fortsetzungen folgen, hängt wohl vom Erfolg ab. (STANDARD-Mitarbeiterin Angela Huemer/DER STANDARD, Printausgabe vom 23.7.2003)

Lanie

Selbstverständlich ist die Sendung geschmacklos,
aber die Hauptsendung "You the Judge" mus
s ja gute Quoten haben.
Man würde es nicht produzieren, wenn es keiner
schauen würde. Das ist das frappierende.

:(

Lanie

Wenn die Quoten und Anrufer hoch sind ist es vieleicht gar kein Tabubruch mehr, sondern ein weiteres Zeichen für die Konsumgesellschaft. Schließlich entscheidet die Gesellschaft was für jene ein Tabu ist.
Dabei mache auf eines der größten gesellschaftlichen Probleme der reicheren Staaten aufmerksam.
In unserer Gesellschaft gibt es keine einheitliche Vorstellung von Moral und Tabu mehr, und das ist vieleicht (meiner Meinung nach!) gut so, weil es einen Fortschritt bedeuten könnte, nur leider sind die Menschen so wie sie sind und lenken ihre Vorstellungen in die völlig falsche Richtung. Daraus können sehr schnell neue Rassenunruhen entstehen, wie z.B. die Ausschreitungen in London zwischen Indern und anderen Gruppen.
Die Freiheit zu entscheiden an was ich glaube, bedeutet mehr Freiheit für einen Irrtum.

Lanie

Der Irrtum in diesem Falle ist die Anmaßung der beschissene Durchschnittsbürger habe das Wissen, die Einschatzungskraft und die Unbefangenheit eines Richters. Aus Dekadenz und Überheblichkeit wird Geld gemacht.

"Your rich nation is powerful, but think of the troops of tomorow!" - the Exploited.

"Es ist folgerichtig, es wird so sein, sie werden sich hohlen was ihnen gehört, Goldene Türme wachsen nie endlos, sie stürzen ein." -Slime

Sandra

...wenn also ein Asylant hübsch und sympathisch ist, und gut auf die Tränendrüse drücken kann, stimmen die Zuseher dafür, dass er bleiben darf. Dicke, sich schlecht artikulierende, hässliche - haben einfach keine Chance.

In Brasilien gibt es ein Fernsehformat, wo Arbeitslose "in den Ring" steigen, um eine Stelle zu bekommen - das Publikum wählt, wer die Stelle kriegen soll...

Auf der anderen Seite: so kriegt eine breite Masse auch mal EInzelschicksale präsentiert - und könnte - seien wir doch mal "romantisch" - auch das mit den ""Wirtschaftsflüchtlingen" endlich auch mal als Einzelschicksale begreifen.

Sandra

Ah, und noch was: Ignatz - wieso bist Du eigentlich davon überzeugt, ein "Richter" habe eben gerade NICHT die Einschätzungskraft eines "Durchschnittsbürgers"? Wieso sind Richter "bessere Menschen"? Ja, sie sollten es vielleicht sein - aber...sind sie es wirklich?

Eine meiner Lieblingsgeschichten - ist fast eine talmudische Gleichung, weil sie auf alle möglichen Bevölkerungsgruppen anwendbar ist: Der Reiche Mann wird vom Armen Mann gefragt: "Wie wird man so reich?"
Der Reiche Mann sagt: "Erst musst du 10 Jahre leben wie eine Schwein" der Arme fragt: "Und dann?"
Der Reiche sagt: "Dann bleibst Du schon so."

Wenn man durch das "Raster" gegangen ist - kann  man dann noch so denken, wie vor dieser "Lehrzeit"?

Georg Kreisler:
"Anfangs macht man Konzessionen,
um zu essen und zu wohnen
später macht man Konzessionen
an Personen, die sich lohnen
bis man eines Tages einzusehen beginnt
dass die meisten Konzessionen keine mehr sind"

Stroganoff

#6
ZitatIn Brasilien gibt es ein Fernsehformat, wo Arbeitslose "in den Ring" steigen, um eine Stelle zu bekommen - das Publikum wählt, wer die Stelle kriegen soll...
Argentinien. Ich hab die Sendung auf arte auch gesehen. ;)

Sandra

Stimmt. Argentinien. (War gestern etwas öh... illuminiert) Das Land, das uns vorlebt, was Neoliberalismus ist :o

freek

Weißt du was??
Das mit dem "in the ring" steigen errinnert mich (natürlich viel übertriebener) an den Film von (Richard Bachman) Stephen King: Running man. Hast du den gesehen?


freek

Lanie

"Wieso sind Richter "bessere Menschen"? Ja, sie sollten es vielleicht sein - aber...sind sie es wirklich? "


Zumindestens bin ich erst mal davon ausgegangen.. ;)

Andrea

#10
Der Thread besteht schon lange, aber das spielt keine Rolle. Er ist zeitlos.
Ich glaube, dass eine Show, in der Flüchtlinge vorgeführt werden und in der das Publikum auch noch entscheiden kann, ob sie bleiben dürfen oder nicht, vielen Menschen einen Freibrief für rassistisches Verhalten gibt. Ich will nicht sagen, allen, aber denen, die sowieso schräg denken.  Vielleicht - und das ist schon sehr romantisch gedacht - bringt man mit einer solchen Sendung einige wenige Menschen zum Umdenken, aber nicht genug, um damit so ein Format zu rechtfertigen.
Ich persönlich halte von all diesen Shows nichts, auch nicht von "milderen" Formaten, aber den Sendern bringen sie Quoten. Da interessiert nicht, ob denjenigen, die sich für eine solche Show zur Verfügung stellen, bewusst ist, was DAS mit ihnen macht.  
Zum Licht gehört der Schatten, zum Tag die Nacht. Das musst du dir so oft sagen, bis du es weißt und für selbstverständlich hältst. Dann kannst du nicht enttäuscht darüber sein. Denn leben heißt: Das

Sandra

Naja, damit operieren die Sender ja: Die Einzelnen sehen, was es IHNEN ganz speziell bringen könnte. Aber was es allgemein bringt - DAs ist ja die wirklcihe Gefahr.