Märchen vom Auszug aller Ausländer

Begonnen von Andrea, 04. Dezember 2004, 04:48:11

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Andrea

von Helmut Wöllenstein

Es war einmal, etwa drei Tage vor Weihnachten, spät abends. Über dem Marktplatz
der kleinen Stadt kamen ein paar Männer gezogen. Sie blieben an der Kirche
stehen und sprühten auf die mauer die Worte "Ausländer raus" und "Deutschland
den Deutschen". Steine flogen in das Fenster des türkischen Ladens gegenüber
der Kirche. Dann zog die Horde ab. Gespenstische Ruhe. Die Gardinen an den
Fenstern der Bürgerhäuser waren schnell wieder zugefallen. Niemand hatte etwas
-gesehen.

"Los kommt, wir gehen." "Wo denkst Du hin! Was sollen wir denn da unten im
Süden?" "Da unten? Da ist doch immerhin unsere Heimat. Hier wird es schlimmer.
Wir tun, was an der Wand steht: ´Ausländer raus´ !"

Tatsächlich: Mitten in der Nacht kam Bewegung in die kleine Stadt. Die Türen der
Geschäfte sprangen auf. Zuerst kamen die Kakaopäckchen, die Schokoladen
und Pralinen in ihrer Weihnachtsverkleidung. Sie wollten nach Ghana und
Westafrika, denn da waren sie zu Hause. Dann der Kaffee, palettenweise, der
Deutschen
Lieblingsgetränk: Uganda, Kenia und Lateinamerika waren seine Heimat.

Ananas und Bananen räumten ihre Kisten, auch die Trauben und Erdbeeren aus
Südafrika. Fast alle Weihnachtsleckereien brachen auf. Pfeffernüsse, Spekulatius
und Zimtsterne, die Gewürze aus ihrem Inneren zog es nach Indien. Der Dresdner
Christstollen zögerte. Man sah Tränen in seinen Rosinenaugen, als er zugab:
Mischlingen wie mir geht´s besonders an den Kragen. Mit ihm kamen das Lübecker
Marzipan und der Nürnberger Lebkuchen.

Nicht Qualität, nur Herkunft zählte jetzt. Es war schon in der Morgendämmerung,
als die Schnittblumen nach Kolumbien aufbrachen und die Pelzmäntel mit Gold
und Edelsteinen in teuren Chartermaschinen in alle Welt starteten. Der Verkehr
brach an diesem Tag zusammen ... Lange Schlangen japanischer Autos, vollgestopft
mit Optik und Unterhaltungselektronik, krochen gen Osten. Am Himmel sah man die
Weihnachtsgänse nach Polen fliegen, auf ihrer Bahn gefolgt von den Seidenhemden
und den Teppichen des fernen Asiens.

Mit Krachen lösten sich die tropischen Hölzer aus den Fensterrahmen und
schwirrten ins Amazonasbecken. Man musste sich vorsehen, um nicht auszurutschen,
denn von überall her quoll Öl und Benzin hervor, floss in Rinnsalen und Bächen
zusammen in Richtung Naher Osten. Aber man hatte ja Vorsorge getroffen.

Stolz holten die deutschen Autofirmen ihre Krisenpläne aus den Schubladen: Der
Holzvergaser war ganz neu aufgelegt worden. Wozu ausländisches Öl?! - Aber
die VW´s und BMW´s begannen sich aufzulösen in ihre Einzelteile, das Aluminium
wanderte nach Jamaika, das Kupfer nach Somalia, ein Drittel der Eisenteile
nach Brasilien, der Naturkautschuk nach Zaire. Und die Straßendecke hatte mit
dem ausländischen Asphalt auch immer ein besseres Bild abgegeben als heute.

Nach drei Tagen war der Spuk vorbei, der Auszug geschafft, gerade rechtzeitig
zum Weihnachtsfest. Nichts Ausländisches war mehr im Land. Aber Tannenbäume
gab es noch, auch Äpfel und Nüsse. Und die "Stille Nacht" durfte gesungen
werden - Allerdings nur mit Extragenehmigung, das Lied kam immerhin aus
Österreich!
Zum Licht gehört der Schatten, zum Tag die Nacht. Das musst du dir so oft sagen, bis du es weißt und für selbstverständlich hältst. Dann kannst du nicht enttäuscht darüber sein. Denn leben heißt: Das

Sandra

Schöne Geschichte!
Es ist ja das Selbe bei allen Fundamentalismen: Die wollen immer möglichst nur die reine, die "eigene" Lehre - aber alles, was drumherum ist, Konsumgüter, die Art der Verbreitung der Lehre, ihr ganzes Leben drumrum wollen sie sehr wohl mit der Arbeit der "anderen". Nicht nur die radikalen Islamisten, die sehr gerne Internet, Bomben, Autos wasweissich nützen,  und ihre Kinder in den Westen studieren schicken - nur, um ihre Lehre voranzubrigen, auch die funamentalen Christen, die sich gerne auf alles mögliche verlassen, dass Jesus so nicht vorgesehen hat - man denke nur an die Fernsehprediger - bei Bush muss man das alles nicht näher ausführen.  Die ganz radikalen rechten Juden (zB in Mea Sharim, dem Orthodoxenviertel in Israel)  sind da auch nicht wirklich eine Ausnahme, die lehnen zwar vieles der "zivilisatorischen Errungenschaften" ab, sogar den Staat Israel lehnen sie ab - aber sie leben drin und sie lassen sich auch von ihm bezahlen mit Hilfsgeldern etc.
Aber: Die Ausländerfeinde sind die dümmsten von allen...
Die graben sich selbst den Ast ab, auf dem sie sitzen. denn was diese Geschichte auslässt (aber impliziert) ist, was geschieht, wenn die ausländischen MENSCHEN das Land verlassen....

Andrea

Ich habe die Geschichte in einer Mailingliste, die ich mit moderiere, verbreitet, und siehe da, schon entlarvte sich eine Ausländerfeindin. Zum Glück haben gleich ein paar User reagiert, und ich war auch nicht gerade sanft zu dem Mädel. Blinde Ausländerfeinde? Das ist für mich  doch irgendwie nicht logisch nachvollziehbar. Ich hab ihr auf die feine Uncharmante gesagt, dass unter Hitler wir alle (alle Blinden) weg gewesen wären, und dass es mich erstaunt, dass sie als jemand, die ausgegrenzt wird, selbst ausgrenzt. Auch hab ich ihr gesagt, dass ich den Eindruck habe, sie plappert von irgendwem alles nach, egal, ob es um Drogenmissbrauch, Ausländer oder sonst was geht und dass man aber als erwachsener Mensch sein Gehirn einzuschalten hat. Verstanden hat sie NICHTS von dem, was - wer auch immer - ihr sagen wollte. - Ihre Antwort: "Was regt ihr euch denn so auf? Ich darf doch meine Meinung sagen. Oder?"  Genau die Antwort, die ich erwartet hatte.  
Zum Licht gehört der Schatten, zum Tag die Nacht. Das musst du dir so oft sagen, bis du es weißt und für selbstverständlich hältst. Dann kannst du nicht enttäuscht darüber sein. Denn leben heißt: Das

Dagmar

Das ist ja das Unerträgliche: Du kannst gar nicht deutlich genug werden. Manche begreifen es halt irgendwie nie  >:(
Je fester dir einer die Wahrheit verspricht, in Programmen und Predigten, glaube ihm nicht. Und geh' zu den Gauklern, den Clowns und den Narr'n: Dort wirst du zwar nix, doch das in Wahrheit erfahr'n.

Sandra

Das ist auch für mich ein erstaunliches Phänomen: In amerika zum Beispiel sind oft die Schwarzen die hässlichsten antisemiten - dass Minderheiten auf andere Minderheiten hauen - das will mir nicht in den Kopf.
Wer war das - irgendein Philosoph hat ein ziemlch gutes Werk darüber geschrieben, dass man den anderen nicht immer als Mensch erkennen kann und will - und sobald diese Erkenntnis da ist, dass der andere auch ein Mensch ist, funktioniert's - aber dass die Menschen eben genau das brauchen: eib Gegenüber anfeinden, dass sie nciht als Mensch wahrnehmen, um sich selbst als einzigartig zu begreifen. Die Meisten Namen der Indianerstämme (und auch die "Inuit", die Eskimos) bedeuten übersetzt: "Mensch" - als ob die anderen eben keine wären.

Sandra

#5
Hab nachgeschaut: Alain finkielkraut war's - den ich im Übrigens äusserst schätze - ein ziemlcih kluger und umstrittener Kopf. Haut immer brav abwechselnd auf lechts und rinks. ;D

Dieses System: den anderen nciht als Mensch wahrnehmen funktioniert ja auch gut in Israel: Keine Seite will die Schmerzen, die die jeweils andere hat als ebenbürtig zu den eigenen Schmerzen einstufen.

Sandra

Lustig - heute habe ich ein Radiokolleg zu dem Thema aufgenommen - also, zum thema Gewalt in Sprache und Tat und wie man das vermeidet, die verschiedenen Strategien. Ist vermutlich nur für Andrea interessant, weil sie manchmal zu so nachtschlafenen zeiten auf ist, aber ö1 hat einen live-stream,http://oe1.orf.at/konsole_live.html und die Radiokollegs sind ab kommenden Montag täglich um 9°° (der Teil über Gewalt ist ab 9.30) und die Sendungen sind wirklcih interessant.

Andrea

Zum Licht gehört der Schatten, zum Tag die Nacht. Das musst du dir so oft sagen, bis du es weißt und für selbstverständlich hältst. Dann kannst du nicht enttäuscht darüber sein. Denn leben heißt: Das