Behinderte und ihre Umwelt

Begonnen von Karin, 01. September 2005, 20:56:55

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Karin

Hallo, Ihr!

Da ich selber mit einer Behinderung lebe und gut damit zurechtkomme (Gott sei Dank), wollte ich dieses Thema mal anschneiden.

Im Grunde bin ich dankbar, daß sich im Laufe der Jahre  einiges getan hat, was das Aufeinander-Zugehen betrifft. Doch eins macht mir immer noch Kopfzerbrechen: Warum muß überhaupt von einem "Behinderten-Gleichstellungsgesetz" gesprochen werden? Warum muß Behindertengleichstellung gesetzlich verankert werden? Es sollte doch ganz normal sein, Menschen gleichzustellen, egal wer, was und wie sie sind.

Ich spreche da nicht nur von _meiner_ "Spezies", nämlich der Blinden, sondern, da ich bei "Christ & Behinderung" mitarbeite (einem Arbeitsforum der Evangelischen Allianz), habe ich auch mit anders Behinderten zu tun. Beispielsweise hat's ein Spastiker, der noch dazu sprachliche Probleme hat (oft in erhöhtem Ausmaß), ganz schön schwer, überhaupt in den Arbeitsprozeß zu kommen. Ist ja völlig absurd: Warum müssen Unternehmen Behinderte einstellen und sind dadurch von der "Behindertentaxe" befreit? Das sollte ja gar kein Diskussionsthema sein und erst recht nicht an Bedingungen an den Unternehmer geknüpft sein.

Wie seht Ihr das?

Zyankalifreund

#1
Hallo liebe Karin, schön dass du zu uns gefunden hast. Vielleicht schließt du dich mal mit der Andrea kurz? Sie wird dir da sicherlich auch einiges zu berichten wissen.

Tatsächlich finde ich es auch etwas blöd und diskriminierend, dass man Behinderte in unserer Gesellschaft immer gesondert behandelt, z.B. per Gesetz.
Nun halte ich es aber auch für ausgesprochen schwierig, (Klärt mich auf falls ich irre!) eben das zu vermeiden.
Schließlich geht es in diesen Gesetzen nicht nur darum "Wie binde ich einen behinderten Menschen in die Gesellschaft ein", sondern auch darum, dass ihr ja bestimmte Rechte, Finanzhilfen und Ähnliches habt, die andere nicht in Anspruch nehmen können. Das heißt insofern ist ja eine - Ich nenne es mal Fallunterscheidung - mehr oder weniger ein Muss.

Dabei tritt man ins Fettnäpfchen, keine Frage, denn man will nichts falsch machen und schießt dann mal übers Ziel hinaus.

Das was du da schreibst mit der Behindertentaxe, desen Zusammenhang habe ich nicht ganz verstanden. Vielleicht kann mir diese Logik ja jemand erklären?

Karin, ich hoffe ich habe dich überhaupt richtig verstanden? Das ist ein heißes Eisen was du da anbringst.

Bastian

#2
ZitatWarum muß Behindertengleichstellung gesetzlich verankert werden? Es sollte doch ganz normal sein, Menschen gleichzustellen, egal wer, was und wie sie sind.
"Sollte", ja. Aber IST es in der Realität so?

Soweit ich es verstanden hab geht es z.B. auch um die gesetzliche Regelung von Barrierefreiheit in Bundesbehörden und öffentlichen Einrichtungen. Nur ein Beispiel von vielen. Wenn das nicht in einem Gesetz festgeschrieben ist, wird kaum einer eine Rolli- Rampe vors Sozialamt bauen- es kostet ja Geld. Aber durch dieses Gesetz hat man heute den Anspruch auf eine solche Rutschbahn.

In Düsseldorf ist das Einwohnermeldeamt vor ein paar Jahren in einen Neubau umgezogen, weil das alte Gebäude keinen Fahrstuhl und nur steile Treppen gehabt hat. Klar der alte Bau war auch zu klein, aber im neuen Amt gibt es breite Aufzüge, Rampen und elektrische Türöffner.

Oder nimm den Rechtsanspruch auf einen Gebärdendolmetscher bei Behördengängen, das muss einfach gesetzlich geregelt sein. Oder das allseits bekannte "Ausstieg in Fahrtrichtung links" in der S- Bahn... Für einen Sehenden und Gehenden ist das eine recht langweilige Info, für Blinde oder Roller hats schon einen Vorteil.

Hier der Gesetzestext:
http://www.sidiblume.de/info-rom/arb_re/sgb/bgg.htm

Karin

Hallo, Eric!

Das mit der Behindertentaxe (vielleicht nennt man das eh anders) ist so zu verstehen, daß ein Unternehmen verpflichtet ist, eine gewisse Anzahl Behinderter einzustellen, weil es sonst sowas wie "Strafe" zahlen muß. Das sollte eigentlich nicht mit Strafe, Taxe oder was weiß ich noch alles verbunden sein. Behinderte sind Menschen, die genauso aufs Klo müssen und die auch genauso wie "Gesunde" ein Recht auf Leben und Arbeit haben. Daß einem mit einer Strafe angedroht werden muß, wenn er solche Menschen nicht aufnimmt, ist traurig, finde ich.

Doch was Du zum Thema "Gesetz" sagst, ist sicher auch interessant, konsequent drüber nachzudenken. Denn wenn man so ein Gesetz nicht befürwortet, dürfte man auch die Vergünstigungen nicht befürworten.

Jedenfalls möchte ich sicher nicht jammern, denn auch wir sind dazu aufgefordert, "Aufklärungsarbeit" zu leisten, wenn wir wollen, daß Menschen auf uns zugehen.

Andrea

Hallo Karin! Du hast also den Link zur Erstellung eines neuen Beitrags gefunden ;-), und es scheint dir hier schon zu gefallen.
Ich weiß, was du meinst mit: Eigentlich sollte es normal sein, dass... Ich empfinde es auch so. Aber ohne diesem Gleichstellungsgesetz sähen wir ganz schön alt aus. Da ginge es uns wie den Blinden in Griechenland, die nur mit einem Behindertentaxi mit ihrem Hund fahren dürfen. Die Rollifahrer vor allem können in Thessaloniki nicht U-Bahn fahren. Sie sind auf das Behindertentaxi angewiesen. Und wenn einem dort nur ein Finger fehlt, kriegt man keinen Job in einer höheren Position. Du kannst dort als gehandicapter Mensch nicht Lehrer werden. So sehr ich Griechenland als Urlaubsland liebe, dort als Mensch mit Handicap leben möchte ich nicht.
Zum Licht gehört der Schatten, zum Tag die Nacht. Das musst du dir so oft sagen, bis du es weißt und für selbstverständlich hältst. Dann kannst du nicht enttäuscht darüber sein. Denn leben heißt: Das

Sandra

Hallo Karin,
ja Andrea hat Recht - und Eric auch: Wenn jemand von natur aus ein schwierigeres Leben hat, dan ist das Gleichstellungsgesetz dafür da, dass die "Schwierigkeit" mit anderen Hilfen irgendwie kompensiert wird. Damit derjenige die gleichen Chancen und Rechte hat. Menschen sind nicht grundsätzlich so, dass sie andere Menschen immer auch gleich als Menschen erkennen - und so behandeln, wie sie selbst behandelt werden möchten. Teils aus Unverstand (zB wird gerne mit Gehörlosen so geredet, als seien sie geistig behindert), teils einfach aus dem "Wahrnehmen des eigenen Vorteils" heraus (Ha, ich bin schneller, ich nehm mir das jetzt!"), teils aus reiner Arschlochösität.
Und ich bin überzeugt, gerade in Deutschland hat man doch die schöne Mentalität: Der Staat ist zuständig - für alles, was ich nicht machen will - und wenn es die Behinderten-Zulage oder wie immer das heisst in den Betrieben nciht hätte, dann würden alle Behinderten, egal was sie haben oder nicht haben im staatlichen Narrenhaus sitzen und Pillen bekommen zur Ruhigstellung  und nixis mit Arbeit und normal Leben.

Dagmar

Herzlich willkommen bei uns, Karin  :)

ZitatTeils aus Unverstand (zB wird gerne mit Gehörlosen so geredet, als seien sie geistig behindert

Ein Beispiel dazu: Andrea war gestern bei mir im Büro. Als sie wieder fuhr, brachte ich sie noch runter. Wir verabschiedeten uns gerade, da quatschte uns ein Typ an und sagte (zu mir, wohlgemerkt, nicht zu Andrea): "Na ob das gut geht. Da vorne ist ja eine Baustelle". Die "Baustelle" war auf einer riesig breiten Straße ohne Autos ein 1 mal 1 Meter kleines Asphaltstück in irgendeiner Gebäudeecke. Andrea und ich haben einen Moment überlegt, ob Andrea jetzt für den Rest ihres Lebens bei mir vorm Büro stehen bleiben muss.

Und zur Einstellungspraxis: Ich kenne keinen einzigen Betrieb, der von sich aus Menschen mit Behinderungen einstellen würde, wenn die Strafabgabe nicht so hoch wäre. Das ist vielleicht moralisch nicht nachvollziehbar, aber der Mensch ist nun mal von Grund auf ichbezogen und guckt auf seine persönlichen Vorteile. Und viele Betriebe allemale. Guck' doch gerade im Moment mal nach New Orleans: Wehe wenn sie losgelassen, fällt mir dazu ein.
Je fester dir einer die Wahrheit verspricht, in Programmen und Predigten, glaube ihm nicht. Und geh' zu den Gauklern, den Clowns und den Narr'n: Dort wirst du zwar nix, doch das in Wahrheit erfahr'n.